Die organisierte Spekulation
10. März 2009 von Friedrich Müller-Reißmann
Über Einkommen, Leistung und Risiko
Um leben zu können, braucht man in der arbeitsteiligen Gesellschaft Einkommen. Wie kommt man aber an Einkommen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, und alle haben etwas mit Leistung und Risiko zu tun – jedoch auf höchst unterschiedliche Weise.
Die nahe liegende Möglichkeit ist, sich an der Erstellung des „Sozialprodukts” zu beteiligen, also mitzuarbeiten und etwas für die Gemeinschaft zu leisten. Im Idealfall entspricht die „Gegenleistung”, die der Mitarbeiter als Einkommen für seine Leistung bekommt, dem „Wert” seiner Leistung für die Erstellung des „Sozialprodukts”. Der Mitarbeiter hat ein Leistungseinkommen ohne Risiko[1].
Die Frage, inwieweit sich die reale Einkommensverteilung dem Idealzustand annähern kann, also inwieweit so etwas wie eine ökonomische Verteilungsgerechtigkeit existiert, ist hier nicht das Thema, und erst recht nicht, ob ein geldliches, eindimensionales Kalkül überhaupt „Werte” in einer hochkomplexen, mehrdimensionalen Wirklichkeit einigermaßen adäquat erfassen kann. Es wäre dringend angezeigt, auch in diesem Zusammenhang den herrschenden „Alleinvertretungsanspruch” der geldlichen Betrachtung in Frage zu stellen (und das heißt: der Ökonomie das Recht streitig zu machen, „Leitwissenschaft” für die Politik zu sein). Leistung wie „Gegenleistung” sind mehrdimensional: nicht nur das Einkommen zählt, sondern auch die Qualität der Arbeit, also ob die Arbeit krank oder Spaß macht, ob sie überfordert oder herausfordert usw.
Auch die Frage, inwieweit der „Marktwert” einer Leistung, die sich durch seine „Knappheit” bestimmt, etwas mit einer gerechten Zuordnung von Leistung und Einkommen zu tun hat, bleibt hier außerhalb der Betrachtung. Zweifel sind mehr als angebracht, wenn eine Leistung, die von vielen erbracht werden kann, nur einen Hungerlohn einbringt, während die Leistung z.B. eines Bankmanagers mit Millionen honoriert wird, nur weil es (tatsächlich oder vermeintlich) nur wenige gibt, die die Fähigkeit zum Bankmanager haben.
Es gibt allerdings Einkommen, die als leistungsbezogene Einkommen gelten, die einen überhaupt an der Substanz des Leistungsbegriffs zweifeln lassen. Ich meine dieses ganze System der Bonuszahlungen, der Provisionen und Gebühren für Geschäftsabschlüsse, bei denen niemand mehr fragt, ob sie außer für diejenigen, die die Provisionen und Gebühren kassieren, noch irgendeinen übergreifenden Wert haben. Diese Formen der Belohnung sind im letzten Jahrzehnt im Finanzsektor zu einem eigenständigen Anreizsystem angewachsen, das die Entwicklung maßgeblich bestimmt und in eine Richtung getrieben hat, die die Stabilität des ganzen Wirtschaftssystems gefährdet, wie die Finanzkrise jetzt zeigt.
In einer dynamischen, sich ständig verändernden (nicht unbedingt wachsenden[2]) Wirtschaft, die Investitionen braucht, entstehen immer finanzielle Risiken, und Menschen – wir nennen sie gemeinhin Unternehmer -, die das Risiko von Investitionen übernehmen, leisten damit ebenfalls etwas für die Gemeinschaft, nicht nur bei der Erstellung des gegenwärtigen Sozialprodukts, sondern vor allem für die Erstellung eines verbesserten (nicht unbedingt vergrößerten; s. Fußnote 2) Sozialprodukts. Wir haben es hier mit einem Einkommen aufgrund von Leistung und Risikoübernahme zu tun, kurz: mit einem Leistungseinkommen unter (finanziellem) Risiko. Das Ausmaß des Risikos, das nicht nur das aktuelle Einkommen einschließt, sondern Vermögensverlust und Verschuldung und damit Einbuße zukünftig verfügbarer Einkommen bedeuten kann, rechtfertigt, dass risikobehaftete Leistungseinkommen von Unternehmern in der Regel höher sind als risikolose Leistungseinkommen von Mitarbeitern oder sein sollten.
Bereits an dieser Stelle einige grundsätzliche Bemerkungen über den Zusammenhang zwischen Einkommen und Risiko wegen eines nahe liegenden Missverständnisses. Der hohe Gewinn folgt nicht aus dem Risiko als solchem. Dieses Missverständnis wird suggeriert, wenn es heißt, dass außergewöhnliche Gewinne über längere Zeit nur durch hohe Risiken zu erlangen seien. So als wäre der außergewöhnliche Gewinn gewissermaßen die Belohnung für die Bereitschaft, ein hohes Risiko einzugehen. Richtig ist, dass für außergewöhnliche Gewinne Projekte angegangen werden, die mit hohen Risiken verbunden sind. Die jedoch nicht immer und hauptsächlich von denen getragen werden, die am meisten profitieren. Im Gegenteil werden oft die größten Einkommen von denen erzielt, die mit großer Raffinesse die mit den Geschäften verbundenen Risiken anderen zugeschoben haben (davon unten mehr).
Das Risiko ist jedoch häufig die Begleiterscheinung besonders gewinnträchtiger Projekte. Das hat etwas damit zu tun, dass letztlich alle Geschäfte (weil sie immer irgendwie zukünftige und damit unsichere Aspekte einschließen) etwas von einer Wette haben (während die spekulativen Finanzgeschäfte im Kern Wetten sind). Mit der Höhe des Einsatzes steigen die möglichen Gewinne. Aber auch die Wahrscheinlichkeit des Gewinns? Bei der Lotterie und im Casino ist das eine reine Frage der Mathematik. Bei den Wettspielen in der Realität ist die Sache komplizierter: die großen Spieler nehmen hier Einfluss auf den Wettausgang. Aber auch darin steckt ein Risiko, beinhaltet also indirekt auch wieder eine Wette: Werden sich die Kosten der Einflussnahme auszahlen? Werden sich z.B. die brutal ausgebeuteten Arbeiter über den gesamten Kalkulationszeitraum des Geschäfts diese gefallen lassen? Oder wird es zu Unruhen kommen? Für einen überschaubaren Zeitraum kann dies mit Gewalt ausgeschlossen werden. Und für diesen Zeitraum sind dann die äußerst gewinnträchtigen Projekte eben überhaupt nicht besonders riskant, sondern völlig risikolos für den Geschäftemacher! Aber nicht nur unerwartete negative Ereignisse, Bürgerkriege, soziale und ökologische Katastrophen können dicke Striche durch betriebswirtschaftliche Gewinnrechnungen machen, sondern auch überraschend schnelle wünschenswerte Entwicklungen in Richtung verbesserter sozialer Systeme, höherer Energieeffizienz, neuer kultureller Werte usw. So weit die Zwischenbemerkung.
Neben den Einkommen von Unternehmern und Mitarbeitern, die auf Leistung (mit und ohne Risiko) beruhen, gibt es einen dritten großen Typ des Einkommens: das „Einkommen auf Vermögen”, ein Einkommen ohne (eigene) Leistung und ohne Risiko. Dieses Einkommen entsteht durch einen grundlegenden Strukturfehler im herrschenden Geldsystem und belohnt den Reichen, der mehr Geld hat, als er braucht, und deshalb Geld verleihen kann, mit (beträchtlichem und im Laufe der Zeit wachsendem) Einkommen. Es gibt (weder funktional noch moralisch) ein stichhaltiges Argument für die gesellschaftliche Notwendigkeit oder Nützlichkeit eines „Einkommens auf Vermögen”, im Gegenteil: es schädigt die Gesellschaft durch die praktisch unvermeidlich wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die Untergrabung von Leistungsmotivation und Nachhaltigkeit und führt zu einer Destabilisierung der Gesellschaft. Während die Mehrzahl der Menschen Arbeit und Anstrengungen, nicht selten strapaziöse Belastungen, Demütigungen am Arbeitsplatz, Angst und Unsicherheit und vieles andere für ihr (oft erbärmlich geringes) Einkommen auf sich nehmen, und sich für einen kleinen Einkommenszuwachs zusätzlich einsetzen und politisch kämpfen müssen, bezieht man „Vermögenseinkommen” ohne auch nur den Finger zu rühren, und die permanente Einkommenserhöhung wird, wenn das Gewonnene nicht gleich konsumiert wird, noch mitgarantiert. Ein solcher „Idealtyp” eines leistungs- und risikolosen Einkommens setzt ein „Vorbild”, das eine magische Anziehungskraft für viele Menschen besitzt.
Einkommensmöglichkeiten ohne Leistung (für die Gemeinschaft) gibt es ja durchaus viele. Da ist das große Feld der Wettspiele (der Lotterie, des Casinos, der Spekulation in seinen verschiedensten Formen). Und da ist das große Feld der Kriminalität (des Diebstahls, des Raubes, des Betrugs, der Erpressung usw.). Beide haben sie einen Haken: sie sind mit beträchtlichem Risiko verbunden.
Werfen wir zunächst einen Blick auf das Verbrechen als die eine Form eines leistungslosen, aber höchst riskanten Einkommens. Selbst wenn man davon ausgehen könnte, dass sich irdische Gerechtigkeit immer erfüllt und jeder die Quittung für sein Handeln bekommt, ist das eingegangene Risiko nicht als Preis für das leistungslos „erworbene” Einkommen und somit als bezahlt und moralisch gerechtfertigt anzusehen. Mag es auch den Verbrechertyp geben, der es so sieht, oder mag sogar für einige das besondere Risiko geradezu den Reiz ihres „Einkommens” ausmachen, von den meisten wird das Risiko als lästiges Beiwerk des kriminellen Einkommens angesehen. Und so sehen wir die Tendenz der kriminellen Energie, die dem Verbrechen naturgemäß anhaftende Unsicherheit so weit wie möglich auszuschalten und durch geeignete Methoden (Clanbildung und Arkandisziplin, psychisch und real bindende Initiationsriten, Einschleusung von Clanmitgliedern in die Ordnungsbehörden, Bestechung und/oder Einschüchterung Verantwortlicher, Absprachen mit konkurrierenden Clans usw.) unsichere, sporadische, unberechenbare Einkünfte in einen sicheren, kontinuierlichen, berechenbaren Strom von Einkünften zu verwandeln. Wir nennen dieses Verfahren das „organisierte Verbrechen” – das groß angelegte und weit verbreitete Projekt der „securitisation” von unsicheren Einkünften aus kriminellen Handlungen.
In den letzten beiden Jahrzehnten, massiv gesteigert im letzten Jahrzehnt, erleben wir ein noch weitaus größer angelegtes Projekt: die „securitisation” von risikoreichen Geschäften innerhalb der Finanzindustrie, die „organisierte Spekulation”.
Die organisierte Spekulation
Wettspiele der Finanzspekulation gibt es schon lange, ihre Wurzeln reichen bis in die Antike[3]. Sie haben in der letzten Zeit eine geradezu explosionsartige Vermehrung erfahren. Hauptursache: die durch das System von Zins und Zinseszins bedingte Zunahme und Konzentration „überflüssiger” Vermögen in immer weniger Händen (s.o.). Die exponentiell gewachsenen „Einkommen auf Vermögen” haben solche Vermögensmassen erzeugt und zwar bei denen, die es weder für den eigenen Konsum brauchen, noch selber Unternehmertypen sind, die es investieren wollen, dass massive Schwierigkeiten entstanden sind, sie in der realen Wirtschaft unterzubringen. Sie finden dort nicht mehr im ausreichenden Maße lukrative Anlagemöglichkeiten und drängen deshalb zunehmend in die Spekulation (was zugleich den positiven Effekt hat, vorübergehend Druck von den Kapitalmärkten zu nehmen, und wie eine „temporäre Kapitalvernichtung”[4] wirkt).
Man könnte jedoch noch einen viel grundlegenderen positiven Effekt in der mächtig angewachsenen Spekulation vermuten. Indem die Vermögensmassen nicht mehr alle zinsbringend angelegt werden (können), wird der äußerst problematische von Arm nach Reich gerichtete Geldtransfer, der mit dem Zinseszinssystem verbunden ist, gedeckelt, indem große Teile der „überflüssigen” Vermögen nun gewissermaßen sozial neutralisiert richtungslos zwischen den reichen Spekulanten hin- und herfließen und somit den weniger Vermögenden wie der Gesellschaft als Ganzes nicht schaden. Es ist die These dieses Papiers, dass dies eine mehr als verharmlosende Fehleinschätzung der Spekulation wäre. Die „organisierte Spekulation” kann geradezu als Strategie verstanden werden, den Transfer von Arm nach Reich noch zu steigern. Eine Strategie, die vielfach aufgegangen ist, womit das Grundproblem – die Gefahr des Systemzusammenbruchs – noch verschärft wird, wie die jetzige Finanzkrise zeigt. Dass eine Krise immer zugleich eine Chance darstellt, ist eine Binsenweisheit. Und dass das Ausmaß dieser Krise und der unerwartete Blick in den Abgrund der Bereitschaft zu Besinnung und Neuorientierung Auftrieb gibt, ist nicht abwegig. Manche hoffen, dass diese Krise letztendlich ein wichtiger Meilenstein ist auf dem Weg zu einer grundlegend reformierten, einer ökosozialen Marktwirtschaft, in der das Gewinnstreben des Einzelnen von wirksamen und klaren ökosozialen Rahmenbedingungen „domestiziert” wird. Eine Marktwirtschaft, deren Anreizsystem für Individuen und Unternehmen so gestaltet ist, dass langfristig vernünftige, sozial und ökologisch tragfähige Entscheidungen belohnt werden und nicht wie heute die kurzfristige Steigerung irgendwelcher Umsätze. Eine breite Resonanz dieser Idee kann ich bislang nicht erkennen.
Die genialen „neuen Finanzprodukte”
Betrachtet man die Spekulation klassisch, so handelt es sich um Hin- und Herbewegungen ‚überflüssiger’ Vermögen. Nullsummenspiele zwischen (reichen) Spekulanten. Was der eine Spekulant gewinnt, verlieren andere. Die Verluste von Spekulation können ruinös sein, selbstzerstörerisch, familien- und unternehmenszerstörend. Dieser Sachverhalt ist aus der Sichtweise der Spekulanten völlig unbefriedigend. Es müssen doch Methoden existieren, hohe leistungslose Einkommen durch spekulative Geldgeschäfte zu erzielen, ohne den hohen Preis möglicher hoher Verluste zu zahlen! Durch das Geldsystem als solchem ist bereits die Möglichkeit sicherer leistungsloser Einkommen bewiesen. Warum soll das nicht zu überbieten und noch mehr Geld ohne oder nur mit verhältnismäßig geringem Risiko zu „machen” sein? Und in wessen Taschen zu lenken? Natürlich hauptsächlich in die Taschen derjenigen, die sich mit den größten Summen an der Spekulation beteiligen können, weil sie über die größten ‚überflüssigen’ Vermögen verfügen. Die ganze „organisierte Spekulation” hätte sich ja logischerweise schon im Ansatz ad absurdum geführt, wenn sie auf eine faire Gleichverteilung der Chancen zielte. Dem Einwand, dass es nicht darum ging, Instrumente für besonders Reiche, sondern für besonders Clevere[5] zu schaffen, lässt sich leicht durch den Hinweis entkräften, dass es natürlich die großen Reichen sind, die sich professionelle Cleverness kaufen können.
Die Aufgabe, die sich stellte, war eine echte Herausforderung für die Finanzindustrie, und so schlug die große Stunde der „Bricoleurs”, der narzisstischen „Finanzgenies”, der cleveren „Bastler”, die antraten, um mit „neuen Finanzprodukten” das Übel Risiko gezielt aus der Finanzwelt zu schaffen. Das große Zauberwort heißt „securitisation” (zu Deutsch: Sicherheit erzeugen, wo keine ist). Für den gesunden Menschenverstand ist damit von vornherein klar, dass es niemals darum gehen konnte, dieses Übel generell aus der Welt zu schaffen – denn das hätte bedeutet, die Gesetze der Mathematik außer Kraft setzen zu wollen -, es ging von Anfang an nur darum, „Finanzprodukte” zu entwickeln, mit denen zu bewerkstelligen war, dass diejenigen, die die großen Gewinne damit machen, nicht diejenige sind, die das größte Verlustrisiko tragen, sondern andere. Das heißt: bereits die Intention der „neuen Finanzprodukte” war im Kern auf Täuschung anderer aus. Dafür gibt es nach menschlicher Logik prinzipiell nur zwei Möglichkeiten:
- - Entweder wird der Käufer des Produkts selbst über das Risiko getäuscht (der „kundenunfreundliche” Typ des Finanzprodukts: der Anbieter will auf Kosten seines Kunden Gewinn machen),
- - oder das Finanzprodukt wird so strukturiert, dass andere damit getäuscht werden – in der Regel die weniger Cleveren (der Typ des „kundenfreundlichen” Finanzprodukts, eine Art Kumpanei der Cleverness zwischen Produktanbieter und Produktkäufer auf Kosten anderer).
Die inzwischen vielfach kritisierte Undurchsichtigkeit dieser Instrumente ist kein methodischer Mangel, sondern ihr charakteristischer Wesenszug, eine substantielle Notwendigkeit, um zu täuschen. Die „neuen Finanzprodukte” – die CDOs (‘Collaterised Debt Obligations’), S-CDOs (‘Synthetic-CDOs’), CDSs (‘Credit Default Swaps’), CFDs (‘Contracts For Difference’), WAMs, TACs, SLABS, TTEs und wie die „akrobatischen Namen”[6] dieser Derivate und neuen „Finanzprodukte” auch heißen mögen – sind nicht nur je für sich mehr oder weniger kompliziert, sondern auch noch auf den verschiedensten Ebenen miteinander verschachtelt, so dass sie zusammen ein raffiniertes, feines, undurchdringliches Gewebe bilden, gestrickt aus allen möglichen Objekten, die irgendwie werthaltig sind. Undurchsichtigkeit ist zur Täuschung so nötig wie die Luft zum Atmen. Die „ Finanzprodukte” waren oft nicht nur für die Investoren schwer verständlich, sondern für alle, die mit ihnen zu tun hatten: Kontrollbehörden, Ratingagenturen, Banker, Richter usw. Es wird berichtet, dass selbst Beamte der Bank of England (das ist die englische Notenbank) sich im Zusammenhang des Bankrotts der Northern Rock Bank 2007 von einem Kenner der Materie erklären lassen mussten, was eine CDO (‘Collaterised Debt Obligation’), die bei diesem Bankzusammenbruch (wie bei vielen folgenden) eine entscheidende Rolle spielte, eigentlich ist.[7]
Wenn im Zusammenhang der jetzigen Krise immer wieder das Adjektiv „neu” auftaucht – „neue Finanzprodukte”, „neue Derivate”, „neue Dimension der Krise” usw. -, so ist das nicht nur eine Redensart. Derivate (also irgendwie von anderen „Werten” abgeleitete „Werte”) gibt es zwar schon länger, und die Apologeten der Spekulation bemühen sich sogar, ihre Anfänge bis in die Antike zu verfolgen, tatsächlich jedoch ist das Ausmaß, in dem Derivate kreiert und die weltweite Spekulation bestimmt haben, eine sehr junge Entwicklung.[8] In den Jahren vor der Krise ist der Derivatenmarkt zum größten Markt überhaupt angewachsen; im ersten Quartal 2008 lag der weltweite Nettoumsatz bei 690.000 Mrd. $[9]. Zum Vergleich: Das Weltbruttosozialprodukt liegt bei weniger als 50.000 Mrd. $. Für den normalen Menschenverstand eigentlich nicht vorstellbar: Auf dem Markt, auf dem irgendwelche schwer durchschaubaren „Wertpapiere” gehandelt werden, deren Namen die meisten Menschen nicht kennen, von deren Existenz sie noch nie etwas gehört haben, soll der Umsatz größer sein als z.B. auf dem Ölmarkt oder dem gesamten Warenmarkt oder dem Aktien- oder Devisenmarkt (obwohl auch die beiden letzteren selbst schon durch einen riesigen Spekulationsanteil aufgebläht worden sind)? Die Unvorstellbarkeit dieser Vorstellung vermittelt ein Ahnung davon, welche gigantische Finanzsphäre mittlerweile die reale Wirtschaft „einhüllt”. Da wirkt es fast schon wie Ironie, wenn das Finanzsystem bildlich als Blutkreis der Wirtschaft bezeichnet wird.
Schlüssel- und Ausgangspunkt dieser Entwicklung, bei der ein immer exzessiver Gebrauch der „securitisation” zur Schaffung immer neuer Derivate gemacht wurde, die (spekulierenden) Anlegern zum Kauf angeboten wurden, war die Kreierung eines neuen Derivats: die bereits erwähnte CDO (‘Collaterised Debt Obligation’). Die Geburtsstunde der CDO, wird erzählt, war das Treffen in einem coffee shop der Bank of America zwischen Experten, die mit der Sicherung von Hypotheken befasst waren, mit Derivatenhändlern der Bank.[10] Die Grundidee war, das Risiko von Hypotheken auszuschalten, in dem man sie in (gut verkäufliche, attraktive) Derivate „verwandelt”. Bald zeigte sich, dass dieses Verfahren verallgemeinerungsfähig war und „securitisation” grundsätzlich auf jedwede „Besitztümer” oder Aktiva (engl. ‚assets’), von denen ein regulärer Einkommensstrom ausgeht, angewandt werden konnte.
„Securitisation” und die Entstehung eines neuen Finanzprodukts, die CEO (‘Collaterised Erotic Obligation’)
Im Folgenden werden dieses Verfahren und die zugehörigen Bausteine an einem fiktiven Beispiel erläutert, das vom Sujet her den Verdacht aufkommen lässt, dass die organisierte Spekulation dem organisierten Verbrechen innerlich verwandt sein könnte. Das Aufkommen dieses Verdachts ist nicht rein zufällig.
Ein Bordellbesitzer habe 100.000 in die „Beschaffung” von Prostituierten „investiert”. Diese bilden nun seine „Besitztümer” (seine ‚assets’), von denen ihm ein Einkommensstrom zufließt, der aber unsicher ist, bedroht durch Tod, Krankheit, Flucht, Verfall der Attraktivität der Prostituierten. Wie kann der Bordellbesitzer sein Besitztum sichern (und zugleich schnell neue Gelder zur Erweiterung seiner Geschäftstätigkeit in die Hand bekommen)? Er hat eine blendende Idee: er muss seinen Besitzstand in ein davon abgeleitetes Wertpapier (ein Derivat) verwandeln, das attraktiv ist für spekulierende Anleger. ‚Überflüssiges’ Geld, das weiß er, gibt es in der Welt genug.
Da er erstens nicht daran interessiert ist, für seine erhofften Gewinne viel Steuern zu zahlen, zweitens auch sonst nicht will, dass ihn bestehende staatliche Kontroll- und Regulierungsbehörden auf die Finger schauen, und es drittens für zweckmäßig hält, wenn gewisse Teile seines Vermögens von ihm rechtlich getrennt und damit im Falle eines Bankrotts geschützt sind, und es viertens überhaupt von Vorteil sein kann, wenn manches in seinen Bilanzen gar nicht erst aufgeführt ist, wird er zunächst eine sogenannte Zweckgesellschaft (engl. SPV – ‚Special Purpose Vehicle’) gründen und am besten „offshore” unterbringen, auf einer Steueroase, etwa auf den Cayman Inseln (natürlich nur virtuell, die Cayman Inseln wird er nie betreten). Dann wird er sein „Besitztümer” an diese Zweckgesellschaft verkaufen bzw. an diese übertragen. Diese Zweckgesellschaft bündelt die einzelnen „Besitztümer” zu einem großen abstrakten „Besitztumbündel”, stückelt sie in einzelne Teile, „verbrieft” sie, wie man sagt, so dass sie sich in „Wertpapiere” verwandeln, die man für einen bestimmten Preis verkauft, wodurch der Käufer einen Anspruch auf die Einnahmen aus den zugrunde liegenden „Besitztümern” bekommt. Nun muss eine honorige Ratingagentur mit Buch und Siegel bescheinigen, das derjenige, der eine solches „Wertpapier” kauft, eine sichere Investition tätigt (sie basiert ja schließlich auf den erzwungenen und insofern zuverlässigen Leistungen vieler „anschaffender” Frauen und der zuverlässigen, obwohl nicht erzwungenen Ausgabefreudigkeit ungezählter Männer), und da das Bordell einen sehr guten Ruf unter Ehrenmännern genießt, wird es nicht schwer fallen, eine solche Ratingagentur zu finden. Jetzt braucht man nur noch einen wohlklingenden Namen, z.B. CEO (‘Collaterised Erotic Obligation’), und das neue Finanzprodukt ist fertig.
Diese CEOs finden reißenden Absatz bei Leuten, die Geld übrig haben, denn sie gelten als sicher, und sie bringen eine deutlich höhere Rendite, als das normale Verleihen des Geldes Zinsen bringen würde. Denn die Käufer der CEOs bekommen mit dem Kauf das Anrecht auf einen entsprechenden Anteil des Einkommensstroms aus den „anschaffenden” ‚assets’ des Bordellbesitzers. Die ‚assets’ selbst verbleiben im Besitz des Bordells bzw. seiner Zweckgesellschaft. Das neue „Finanzprodukt” hat zudem deshalb so großen Erfolg, weil zu dem Zeitpunkt, da dieses Produkt kreiert wird, die Zinsen ausgesprochen niedrig sind. Welchen Vorteil hat aber der Bordellbesitzer, wenn nun die Einnahmen aus der Prostitution nicht mehr ihm, sondern den Käufern der CEOs zufließen? Nun, erstens verdient er bzw. seine Zweckgesellschaft reichliche Gebühren (und seine Manager Boni) bei den Verkäufen der CEOs – eine sichere Einnahmequelle. Zweitens bekommt er mit dem Verkauf schnell seine 100.000 zurück, er hat sie damit „securitisiert”, und drittens ist er schnell wieder flüssig und kann sein Geschäft ausweiten, indem er weitere Prostituierte beschafft. So wird er selbst das Risiko seiner „Investitionen” in die Prostitution los, indem er es immer wieder streut – auf die Käufer seiner CEOs. Zugleich schafft er sich sichere und kontinuierliche Einnahmen durch Gebühren. Zudem muss er keine oder nur geringe Steuern auf den Cayman Inseln zahlen, und kann außerdem immer wieder sein ganzes Geld in den Erwerb neuer ‚assets’ stecken, muss also nicht aus Sicherheitsgründen Teile seines Geldes als Reserve halten, was für ihn totes, nicht „anschaffendes” Kapital wäre. Zweckgesellschaften auf den Cayman Inseln fallen nicht unter die Regeln, die Mindestreserven beim Erwerb von ‚assets’ (hier: Beschaffung von Prostituierten, bei Banken: Vergabe von Krediten) vorschreiben.
Die Nachfrage nach CEOs scheint unerschöpflich zu sein, da sie in die ganze Welt verkauft werden, nicht nur an Privatanleger, sondern auch an Banken, Hedgefonds, Private Equity Fonds (s.u.), Versicherungsgesellschaften, ja, sogar an Pensionsfonds. Das Gefühl, in ein gutes und sicheres Geschäft einzusteigen, wird bestärkt durch die Seriosität derer, die schon im Boot sitzen. Je mehr schon mitmachen und je klangvoller ihre Namen sind, desto stärker wächst die Nachfrage und mit der Nachfrage die Kurswerte, was das Gefühl der Sicherheit weiter verstärkt.
Wie kommt es nun zum Zusammenbruch des Schneeballsystems, das es letztendlich ist? Zunächst scheint auch der Prostitutionsmarkt unerschöpflich zu sein. Unser Bordellbesitzer hat längst kein einzelnes Haus mehr, sondern eine riesige Kette, die das ganze Land überzieht. Es sieht so aus, als könnte man endlos immer mehr Geld aus der ganzen Welt in die Prostitution „investieren”, und diese Investitionen „securitisieren”, indem man noch mehr Geld mit den Einnahmen aus der Prostitution ins System lockt. Doch irgendwann ist dieses Wachstumsreservoir erschöpft, immer mehr Prostituierte können nicht mehr die erwarteten Einnahmen bringen, zumal man schon lange dazu übergehen musste, weniger attraktive Frauen zu Prostituierten zu machen (der Bordellkettenbesitzer nannte sie halb zynisch halb wohlwollend seine „Subprimes”). Der Einkommensstrom gerät ins Stocken, und dann geht alles sehr schnell, so schnell wie Vertrauen zusammenbrechen kann. Alle wollen die CEOs loswerden, denn ihnen wird plötzlich bewusst, dass diese „Wertpapiere”, die sie für Vermögen gehalten haben, in Wahrheit keines ist (Konnten sie diese Wahrheit tatsächlich die ganze Zeit verdrängen?). Und so wollen alle sie nun schnell in echtes, sicheres Vermögen verwandeln. Der Markt für die CEOs bricht zusammen, die „Vermögensluft” entweicht aus den „Vermögensblasen”. Jetzt zeigt sich, dass die „Risikostreuung” (eines der behaupteten Vorzüge der „securitisation”) tatsächlich eingetreten war, aber nicht im erhofften Sinne der Risikoverringerung insgesamt, sondern im Sinne der Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit.[11]
Diese Risikostreuung hat überall die Keime der Finanzkrise gelegt. Überall in der Welt haben kleine und große Banken in ihren Bilanzen die CEOs (bzw. außerhalb ihrer Bilanzen versteckt), die sie mit geliehenem Geld gekauft haben und die nun plötzlich nichts mehr wert sind. Umgekehrt haben auch die Bankkunden ihre CEOs als „kollaterale Sicherheiten” (daher der Name) für Kredite von den Banken eingesetzt. Das bedeutet: die Banken sitzen zusätzlich auf Krediten, die über Nacht zu höchst unsicheren Aktiva geworden sind bzw. für die die Zinszahlung gefährdet ist, da die Schuldner nicht mehr auf ihre Einnahmen aus den CEOs zurückgreifen können. Die Banken sitzen also in der Klemme: auf der einen Seite ist ihnen mit dem Markt für die CEOs ihre Liquidität weggebrochen, auf der anderen werden die von ihnen vergebenen Kredite zu „faulen Krediten”. Wenn nun in dieser Situation eine Bank mit größeren Geldforderungen konfrontiert wird oder gar aufgeschreckte Kunden ihre Geldeinlagen von der Bank zurückhaben wollen, droht die Insolvenz. Und wenn dann auch noch aufgrund der Krise das Vertrauen im ganzen Finanzsektor abhanden gekommen und der Geldmarkt ins Stocken geraten ist, über den sich in normalen Zeiten Banken von anderen Banken Geld zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen leihen, dann ist die Insolvenz perfekt. Und nur der Staat, sprich: der Steuerzahler kann sie noch abwenden. Doch die drohende Insolvenz ist nur das eine Problem, bei vielen Banken, die sich zu tief in das Spekulationsspiel eingelassen und verloren haben, fehlen jetzt tatsächlich die Mittel, um ihrer eigentlichen Aufgabe: der Kreditvergabe an die Wirtschaft nachkommen zu können. (Da es auch Gewinner im System geben muss, ist die heute zu beobachtende allgemeine Zurückhaltung der Banken bei der Kreditvergabe an Unternehmen nicht allein mit den Bankverlusten als solchen zu erklären. Hier spielt der allgemeine Vertrauensverlust durch die Krise eine Hauptrolle. Und: große Geldmengen sind durch die Spekulation in die Hände reicher Individuen und Fonds, vor allem Hedgefonds, s.u., gespült worden, die gar nicht daran denken, es zu normalen Konditionen an die Wirtschaft zu verleihen).
Eigentlich ist damit alles gesagt. Man muss nur „Bordellbesitzer” durch „Bank” oder „Banken” ersetzen, „Prostituierte” durch „Hypotheken” und ‚Collaterised Erotic Obligation’ durch ‚Collaterised Debt Obligation’ und aus der fiktiven Geschichte ist die tatsächliche Geschichte der US-amerikanische Hypothekenkrise geworden.
Von der Fiktion zur Realität: die CDOs und die Hypothekenkrise
Auch hier wurden aus den oben genannten Motiven von Banken Zweckgesellschaften (SPVs – ‚Special Purpose Vehicles’), zumeist „offshore” gegründet, an Haushalte vergebene Hypotheken an diese verkauft, dann dort zu einem großen Paket zusammengefasst, wobei erstklassige (sichere) und weniger erstklassige (unsichere) Hypotheken zu einer Einheit verschmolzen wurden, in der sich das Risiko gewissermaßen versteckte. Das Gesamtpaket wurde gestückelt und dann unter Mithilfe willfähriger Ratingagenturen in relativ sichere bzw. als sicher geltende „Wertpapiere” verwandelt und zum Kauf an die verschiedensten Anleger in aller Welt angeboten. Vielfach gelang es, solchen „Wertpapieren” die bestmögliche, die AAA-Bewertung zu beschaffen (was nicht so unglaubwürdig erscheint, wenn man bedenkt, dass die Ratingagenturen von den Banken, die die „Wertpapiere” kreiert haben, bezahlt wurden). Dass in solchen „Wertpapieren” sichere und ziemlich unsichere Hypotheken vermischt waren, wurde verschwiegen, ja, diesen Sachverhalt ließ man sogar als einen Vorzug erscheinen, in dem man von Diversifikation der Kreditrisiken sprach und so den Eindruck besonderer Sicherheit erzeugte. Kritiker sprechen von einer „schwarzen Kunst der Verheimlichung”.[12] Die Attraktivität dieser „Wertpapiere” bestand für die Käufer darin, dass hier scheinbar die magische Ehe zwischen zwei Partnern gelungen war, die finanztechnisch eigentlich nicht zusammenpassen: eine hohe Sicherheit mit einer hohen Rendite. Die hohe Rendite entstand dadurch, dass dem Käufer der CDOs als Einkommensstrom nicht nur der Zins, sondern auch die Tilgung des zugrunde liegenden Kredits zufloss.
Die Attraktivität dieser CDOs, der auch viele deutsche Banken nicht widerstehen konnten, wurde durch die Wertsteigerungen dieser Papiere aufgrund positiver Rückkopplung verstärkt, solange auf diesen Markt immer neue Gelder drängten. Dass gleichzeitig die Werte der Immobilien auf dem US-Markt stiegen, verlieh dem Ganzen ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit (obwohl beide Prozesse nicht unabhängig voneinander waren, sondern sich gegenseitig aufschaukelten). Ein Gefühl, das die Bereitschaft der Hauseigentümer verstärkte, sich mehr und mehr zu verschulden. Diese CDOs bildeten in den Jahren 2003 bis Mitte 2007, die eine Zeit sehr niedriger Zinssätze war, in den USA einen rasch und unablässig wachsenden Markt, der im Gleichklang mit ständig steigenden Immobilienpreisen immer mehr Geld zwecks Spekulation anzog, auch das Geld renommierter Banken mit altehrwürdiger Tradition bzw. das ihrer Kunden. Und diese Seriosität der Mitspieler hat das Gefühl der Sicherheit zusätzlich verstärkt. So konnte sich das Schneeballsystem zu einer bis dahin nicht gekannten Größe aufbauen.
Die Marktwerte stiegen in der Boomphase so unablässig und rapid, dass selbst Betrug nicht groß ins Gewicht fiel. Da wurde von Betrügern ein Haus auf Kredit gekauft, sagen wir für 100.000 $. Da das Haus bald stark im Wert stieg, wurde auf das Haus noch eine Hypothek von 100.000 $ aufgenommen. Mit diesem Geld verschwand der Betrüger, aber das zurückgelassene Haus war inzwischen so weit im Wert gestiegen, dass die Bank kaum einen Verlust machte. Wachstum, solange es groß genug ist, verkraftet locker auch den Betrug.
Solange immer wieder Geld ins System strömte (deutsche Banken wie die Sachsen LB und andere Landesbanken haben mit Milliarden diesen „nachwachsenden” Geldstrom mitversorgt), ging alles wunschgemäß: die Kurswerte der Papiere stiegen, die erwarteten „Einkommensströme” flossen – ohne dass man sich darüber Rechenschaft ablegte, dass das Ganze nach dem Prinzip des Schneeballsystems funktionierte.
Finanzkrisen sind ja nicht neu. Ihr Grundmuster: Spekulation mit geliehenem Geld ist bekannt. Neu ist an der jetzigen Krise die Größenordnung, bedingt (erstens) dadurch, dass die CDOs (bzw. die von diesen u.U. mehrstufig „abgeleiten” Derivate, s.u.) und andere „Finanzprodukte” in einem bis dahin unbekannten Umfang global vermarktet wurden, so dass die Dominoeffekte bei Ausfällen weiter ausgreifen, und (zweitens), dass die „neuen Finanzprodukte”, wie sie von den Bricoleurs („Bastlern”) der Finanzindustrie kreiert wurden, so raffiniert waren, dass viele lange nicht das Risiko wahrgenommen haben, und dass deshalb die „aufsteigende Linie” des Schneeballprozesses besonders lang und steil war. Die Akteure im Finanzsystem glaubten, mit der „securitisation” ein Mittel der Sicherheit gefunden zu haben, dass die traditionellen Vorsichtsmaßnahmen – wie Reservehaltungen bei Kreditvergaben und hinreichende Prüfungen der Kreditwürdigkeit der Kreditnehmer – sträflich vernachlässigt wurden (s.u.). Indem diese Sperren wegfielen, stiegen die Kreditvergaben und damit die Verschuldungen in eine bis dahin nicht gekannte Höhe.
Um das Ausmaß diese Hypothekenbooms und die lange währende öffentliche Blindheit gegenüber der Gefahr, die sich da auf dem US-Immobilien- und zugehörigen Derivatenmarkt zusammenbraute, verstehen zu können, muss man allerdings wissen, dass am Anfang dieses Booms eine große politische Vision stand: nämlich möglichst jedem amerikanischen Haushalt ein Eigenheim zu ermöglichen. In diesem Punkt unterscheidet sich die reale Geschichte von unserer fiktiven Geschichte im positiven Sinne, was die ursprüngliche Intention angeht. Was letztlich dabei herauskam, kann ernüchternder nicht sein – im Hinblick auf die ursprüngliche, soziale Idee: Im August 2008 hat die Investmentbank Credit Suisse geschätzt, dass bei 5,6 Mio. Haushalte die Hypotheken für verfallen erklärt werden müssen, allein im letzten Viertel des Jahres 2007 waren es 900.000 Haushalte, deren Hypotheken geplatzt waren oder vor dem Aus standen. Was das angesichts der eingebrochenen Immobilienpreise bedeutet, kann man sich leicht denken: viele Hausbesitzer hatten durch die Krise plötzlich ein „negatives Vermögen”, die Hypothekenlast war größer als der Wert ihrer Immobilie.[13] Insbesondere afro-amerikanische Haushalte waren die großen Verlierer. Bereits 2007 wurde im Zusammenhang der beginnenden Hypothekenkrise vom „größten Verlust afro-amerikanischer Vermögen in der amerikanischen Geschichte” gesprochen[14]. Es dürften Zweifel angebracht sein, dass die Finanzspekulation der richtige Weg ist, um unterprivilegierten Schichten[15] zu einem größeren Vermögen zu verhelfen. Bildlich gesprochen: Es wurde über Kredite Geldmassen in Haushalte gedrückt, die dort nicht festgehalten werden konnten. Als man sie gewaltsam wieder herauspumpte, wurde ursprüngliches Vermögen gleich mit herausgespült.
„Securitisation” war der letzte Schrei der Finanzindustrie
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Methode der „securitisation” zur Schaffung von Derivaten im Prinzip auf jede Form von ‚assets’ angewandt werden kann: auf Hypotheken und Kredite allgemein, Einnahmerechte an Mautstraßen, Brücken, Flughäfen, Staudämmen, Pflegeheimen usw. Alles, was einen Einkommensstrom erzeugt, kann in ein Derivat verwandelt werden. Damit können aber auch Derivate ihrerseits genutzt werden, um auf ihrer Grundlage ein weiter „abgeleitetes” Derivat zu bilden und zu vermarkten. Und auf der Grundlage dieser abermals ein neues Derivat, so dass mehrstufig „abgeleitete” Derivate oder „Finanzprodukte” entstanden. Man muss sich den Prozess so vorstellen, dass die Derivate, z.B. die ursprünglichen, noch relativ klar definierten CDOs, nicht nur direkt an (spekulierende) Anleger verkauft wurden, sondern vielfach wiederum an (spekulierende) Banken, die sie ihrerseits neu „verbrieft”, möglicherweise noch mit anderen Derivaten zu einer neuen Einheit verschmolzen haben, um sie weiter an andere Banken zu verkaufen, die sie abermals der kreativen Bearbeitung ihrer „Bricoleurs” unterzogen haben usw. Auf diese Weise ist ein äußerst kompliziertes, undurchschaubares System entstanden, bei dem niemand mehr so recht die Sicherheit der Einnahmequellen, die dem Ganzen zugrunde lagen, einschätzen konnte.
Die Derivatenbildung[16] wurde in den Jahren vor der Krise immer mehr ausgeweitet und aggressiv genutzt, um immer mehr Geld für immer größere Geschäfte „aufzureißen”[17] und entsprechende Gebühren und Boni zu kassieren.
Berauscht von der „securitisation” vergaßen Banken bewährte Sicherheitsregeln und -standards und wurden in mehrfacher Hinsicht leichtsinnig. Da haben kreditvergebende Banken international vereinbarte Regeln (wie die Vereinbarung von 1998, genannt Basel I), nach denen eigentlich eine Reservehaltung von 8% der Kreditsumme erforderlich gewesen wären, umgangen (Basel II von 2004 war bereits eine Verwässerung), wodurch sie mehr Kredite vergeben und entsprechend mehr Gebühren und die Bankmanager mehr Boni kassieren konnten. Auf der anderen Seite wurde von den Banken bei der Kreditvergabe selbst beide Augen vor den Risiken zugedrückt und auch sehr problematische Hypotheken an „Subprime” Kunden („untererstklassige” Kunden – schon das Wort färbt schön: nicht ganz erstklassig, eben ein bisschen darunter) in großem Stil vergeben. Das falsche Anreizsystem auf der einen Seite, das einfach den Umsatz als solchen belohnte, und das sich ausbreitende Klima der Unbekümmertheit auf der anderen Seite begünstigte die Kreditvergabe – besonders die großer Summen (die riesige Boni einbrachten). Warum sollte man selber bei der Kreditvorgabe besonders aufwändige Sicherheitsprüfungen machen, wenn man ziemlich sicher war, dass man den Kredit an andere (Banken) weiterverkaufen konnte (mit weiteren Boni als Belohnung), die noch sorgloser waren? Aber auch der größte Vorrat an immer noch Dümmeren ist irgendwann erschöpft.
Dieses Klima der Unbekümmertheit hatte offensichtlich die ganze Finanzwelt mehr oder weniger erfasst, auch die Ebene der Versicherungen von Finanzgeschäften. Wie anders wäre sonst zu erklären, dass der weltgrößte Finanzversicherer, die AIG (American International Group), eine Institution, bei der sich doch, sollte man meinen, höchste Kompetenz in der Einschätzung von Risiken versammelt, 2008 den wohl größten Verlust zu beklagen hat, der jemals in der amerikanischen Geschichte von einem Unternehmen gemacht wurde (99 Mrd. $)?
Die zentralen Akteure waren (und sind) neben den Banken die Hedgefonds und die Private Equity Fonds (die vielfach zusammenspielen: Private Equity Firmen, aber auch Banken und große Unternehmen, haben eigene Hedgefondsabteilungen zur günstigen Geldbeschaffung).
Bevor speziell auf Hedge und Private Equity Fonds eingegangen wird, ein etwas älteres Beispiel[18] aus der Derivatenküche der Bricoleurs, das ebenfalls einen Versuch „organisierter Spekulation” darstellt, eigene Gewinne auf Kosten der Sicherheit anderer zu machen. Es geht um die sogenannten ‚structured notes’ (zu Deutsch: „strukturierte Produkte”), Derivate, deren Wert von der zukünftigen Entwicklung irgendwelcher anderer Finanzinstrumente oder Indices abhängig gemacht wird.[19] Sie spielten in den frühen 90er Jahren eine große Rolle, eine der führenden Akteure war die Investmentbank Credit Suisse First Boston (CSFB). Eines der ersten dieser ‚structured notes’ war an Anstieg und Fall des thailändischen Bath gekoppelt. Die direkte Spekulation in den Bath war bestimmten Akteuren, wie z.B. Pensionsfonds, wegen ihres hohen Risikos verboten. Das neue Instrument überwand genau diese Hürde: man spekulierte nun offiziell nicht, sondern kaufte Papiere von einer renommierten, ‚triple-A-rated’ Bank. Die Papiere fanden auf diese Weise einen weiten Absatz auch bei großen Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds. Unternehmen, wie z.B. General Electric nutzten ‚structured notes’, um an Geld zu kommen zu geringeren Kosten, als wenn sie das Geld gegen Zinsen geliehen hätten. Für einige Zeit schien man hier ein Wundermittel gefunden zu haben, das allen Seiten gefiel. Doch dann brach der Markt zusammen. Es gab Bankrotte regionaler öffentlicher Haushalte, der staatliche Pensionsfonds von Louisiana z.B. verlor 50 Mio. $, die City Colleges of Chicago fast ihr gesamtes Vermögen von 96 Mio. $.
Nicht nur hier, immer wieder zeigt sich, wer die Opfer der Spekulationsgeschäfte sind. Als 2001 z.B. der Energiegigant ENRON (der zugleich ein großer Derivatenhändler war) aufgrund seiner Spekulationen Bankrott ging, verloren die Mitarbeiter ihre Ersparnisse und Ruheständler ihre Pensionen. Und jetzt in der Finanzkrise sind es Zigtausende von Bankmitarbeitern weltweit, die in die Arbeitslosigkeit geraten. Die Schweizer UBS z.B. will 1500 Mitarbeiter entlassen, bei der Credit Suisse sind es um die 5000. Von den Opfern, die zu erwarten sind, wenn aus der Finanzkrise eine allgemeine Wirtschaftskrise wird, ist noch gar nicht die Rede.
Hedgefonds – zu wessen Schutz ist die „Schutzhecke”?
Eine große Rolle in der neuen Finanzindustrie spielen die sogenannten Hedgefonds. Ich kenne keine präzise griffige Definition dessen, was genau ein Hedgefonds ist; das in England neu geschaffenen ‚Hedge Fund Standards Board’ gibt die bemerkenswerte Auskunft, sie wären schwer zu definieren – so wie Elefanten -, aber „man erkennt sie sofort, wenn man sie sieht”[20].
Der Name ist Programm. Ihr Anspruch ist klar: sie wollen „mehr Geld mit Geld machen”, als es der konventionelle Finanzmarkt schafft, sie sind „Alphajäger”. Ihr Ziel liegt typischerweise bei Renditen von 15-20% – also weit jenseits der wirtschaftlichen Wachstumsraten. Wenngleich auch nicht behauptet wird, dass das ganz ohne Risiko für den Anleger geht, so zeigt doch der Name den Anspruch, durch die überdurchschnittliche Professionalität ihres Managements die hohen Returns mit einem vergleichsweise geringen Risiko zu erzielen.
Diese überdurchschnittliche Professionalität der „Alphajäger” hat natürlich für die, die sie sich für die Renditejagd mieten, einen Preis. Denn in erster Linie wollen die Fondsmanager für sich selber „Geld machen”. Ein Manager eines führenden globalen Investmentfonds soll in schöner Offenheit gemeint haben, dass Hedgefonds „eine Vergütungsstrategie, und nicht eine Investmentstrategie” seien.[21] Das Spiel hätte jedoch nicht funktioniert, wenn nicht ein ganzes Umfeld an dieser Vergütungsstrategie partizipierte: Rating- und Werbeagenturen, Beraterfirmen, Rechtanwälte, Experten, Politiker …
Aufschlussreich für Anspruch und Wirklichkeit von Hedgefonds ist die Geschichte der LTCM (‘Long Term Capital Management’ Fonds) von 1994-1998: [22] Der LTCM wurde 1994 vom New Yorker Finanzguru John Meriwether gegründet, zusammen mit 16 Partnern wurde ein Eigenkapital von knapp 5 Mrd. $ aufgebracht. Zum Managementteam gehörten promovierte Mathematiker und Physiker, zwei Ökonomie-Nobelpreisträger und ein ehemaliger Vizepräsident der FED – es verkörperte mit Sicherheit überdurchschnittliche Kompetenz und Seriosität. Der Erfolg ihrer spekulativen Tätigkeit war dementsprechend: Der LTCM machte Gewinne von bis zu 40%. Doch dann im Jahr 1998 machte er – ganz im Widerspruch zu solch geballter Professionalität – riesige Verluste mit den Derivatgeschäften. Um den drohenden Bankrott zu verhindern, der sich aufgrund von Dominoeffekten zu einer allgemeinen Finanzkrise hätte ausweiten können, trommelte die FED Vertreter von 14 Banken zu einer Krisensitzung in New York zusammen. Dabei stellte sich heraus, dass der LTCM mit seinen 5 Mrd. $ Eigenkapital Kredite von 125 Mrd. $ erlangt hatte und damit in spekulative Geschäfte im Umfang von 1250 Mrd. $ eingetreten war. Das ist eine Hebelwirkung des eingesetzten Eigenkapitals von 250. Auf dem Treffen kam außerdem heraus, dass viele renommierte Banken in aller Welt, darunter die Deutsche Bank und die Dresdner Bank, dem Fonds Kredite in dreistelliger Millionenhöhe gewährt hatten, ohne ausreichende Sicherheit und offensichtlich ohne über die Höhe von dessen Gesamtverschuldung informiert gewesen zu sein. Franz Groll schreibt dazu: „Die Banken mussten die Verluste abschreiben. Das bedeutet, dass die Banken entsprechend weniger Steuern bezahlen mussten. Nun war das Geld zwar für die Banken verloren, aber es war ja nicht in ein schwarzes Loch gefallen – er gehörte nur anderen Personen: den Spekulations-Gegenspielern des LTCM. Einmal mehr verdeutlicht dieses Beispiel, wie die Öffentlichkeit durch Steuermindereinnahmen die Gewinne der Spieler im globalen Casino des internationalen Finanzmarktes finanziert. Es ist diese ständige Zahlungsbereitschaft der Öffentlichkeit, welche die Spekulation überhaupt erst attraktiv macht”[23]. Diese Aussage aus dem Jahre 2004 erscheint angesichts der jetzigen Finanzkrise geradezu harmlos. Heute wird die öffentliche Hand nicht nur indirekt durch geminderte Steuereinnahmen zur Kasse gebeten, heute muss sie in ganz anderen Größenordnungen direkt einspringen, um das Schlimmste zu verhindern.
Mit dem Stichwort „Hebelwirkung” ist ein Punkt angesprochen, der bei der Kapitalbeschaffung für die Finanzgeschäfte in den Jahren vor der Krise eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat, und es waren dabei die auf „securitisation” fußenden „neuen Finanzprodukte”, vor allem die CDOs, die sich besonders gut zum Aufbau eines Hebels eigneten und zwar – das war das Neue an der Situation – eines nach allen Regeln der Kunst gesicherten Hebels (eine Scheinsicherheit, wie sich in der Krise herausstellte). Wir wollen das am Beispiel der CDO verdeutlichen. Voraussetzung für den Aufbau eines Hebels ist, dass die Rendite aus einer CDO höher ist als der Zins, den man für einen Kredit zahlen muss. Diese Voraussetzung war in den Jahren 2003 bis in das Jahr 2007 hinein in hohem Maße erfüllt aus doppeltem Grund: auf der einen Seite waren die Renditen aus der CDO hoch, da sie auf den Zinsen aus der Hypothek und der Tilgung basierten, auf der anderen Seite waren die Kreditzinsen in jenen Jahren besonders niedrig. Wenn nun der Besitz einer CDO als Sicherheit für einen Kredit akzeptiert wird, dann ist alles weitere nichts als Mathematik. Und diese Sicherheit wurde akzeptiert, und das war genau der Clou der ganzen „securitisation”: die mittels Kredit gekaufte CDO wurde als „kollaterale Sicherheit” für den Kredit akzeptiert – eine Art selbstreferentielle Sicherheit (zu gut Deutsch: „Die Katze beißt sich in den Schwanz”). Der Rest ist wie gesagt einfache Mathematik. Nehmen wir einen Unterschied zwischen CDO-Rendite und Kreditzins von nur 2% an, erstere betrage 6%, letzteres 4%. Das Eigenkapital sei 1.000.000. Dafür werden CDOs gekauft, die ein Einkommen von 60.000 erbringen, mit dieser Summe können die Zinsen für einen Kredit von 1.500.000 bezahlt werden, für die 1.500.000 werden CDOs gekauft, die eine Rendite von 90.000 bringen, diese können zur Zinszahlung für einen Kredit von 2.250.000 genutzt werden, die eine Rendite von 135.000 bringen, womit man einen Kredit von 3.375.000 finanzieren kann usw. Schon bei diesem geringen Abstand lässt sich über einige Stufen ein beträchtlicher Hebel aufbauen und eine Geldmenge in die Hand bekommen, die das Eigenkapital um ein Vielfaches übersteigt.
In der Realität ist der Hebelaufbau wesentlich schneller erfolgt, da die Einkommensströme aus „securitisierten” ‚assets’ oft wesentlich höher waren[24]. Nicht nur die Hedgefonds haben sich diese Methode zur Vervielfachung ihres Kapitals für alle möglichen Spekulationsgeschäfte zueigen gemacht, sondern vor allem die Private Equity Firmen, die ihr „erhebeltes” Kapital für Aufkäufe von Unternehmen in der realen Wirtschaft eingesetzt haben (s.u.).
Im letzten Jahrzehnt haben Hedgefonds gewaltigen Aufschwung genommen: 1996 hatten sie etwa 130 Mrd. $ an ‚assets’ unter ihrem Management, 2004 waren es 1.000 Mrd. $ und 2007 bereits 2.900 Mrd. $.[25] Der jährliche Zuwachs bemisst sich in Hunderten von Milliarden.
Private Equity Fonds [26]- die „Heuschrecken”[27]
Private Equity Fonds und Hedgefonds haben viele Gemeinsamkeiten: beide sind auf den überdurchschnittlichen Gewinn aus, ihre Manager sind „Alpha-Jäger” (die man sich gewissermaßen mieten kann, wenn man über entsprechendes Geld verfügt), beide sind unreguliert, beide setzen massiv das Instrument des Hebels (‚leverage’) ein, beide kassieren enorm hohe leistungsbezogene Gebühren (‚fees’) bzw. ihre Manager leistungsbezogene Boni. Bereits hierdurch ergeben sich höhere Gewinne, da solche Gebühren z.B. in den USA, aber auch in England wie „Zinserträge” behandelt und entsprechend niedriger besteuert wurden (15 oder 10%) als Löhne und Gehälter (bis zu 35 oder 40%).[28]
In beide Fonds darf nicht jedermann Geld anlegen. Es kommen nur Privatpersonen mit einem Vermögen von mindestens einer Million (ohne selbstbewohnte Hauptimmobilie gerechnet) und einem Einkommen von 200.000 $ (Verheiratete: 300.000 $) in Frage.[29] [30]
Es gibt jedoch auch große Unterschiede: Hedgefonds bewegen sich im Prinzip nur auf dem Boden des Finanzmarktes und der finanziellen Spekulation, während Privaty Equity Fonds mit ihren Spielen des „Geldmachens mit Geld” unmittelbar in die reale Wirtschaft eingreifen. Gegenüber den Hedgefonds könnte man noch (abwiegelnd) argumentieren, dass die hohe Spekulationsgewinne auf Kosten anderer (wenngleich nicht selten getäuschter) Mitspekulanten gemacht werden, und davon absehen, dass vielfach gerade die die Geschädigten sind, die sich in das Spiel hineinziehen ließen, ohne sich seines spekulativen Charakters und der Höhe des Risikos bewusst zu sein (wie die „Subprime” Haushalte; s.o.). Bei den Private Equity Fonds werden solche Beschönigungen oder Verharmlosungen gegenstandslos, denn sie machen ihre hohen Gewinne auf Kosten von Menschen, bei denen nicht die Spur einer freiwilligen Beteiligung zu finden ist.
Private Equity Firmen[31] kaufen typischerweise ganze Unternehmen mit geliehenem Geld (‚leveraged buyouts’)[32], benutzen die Einnahmen (‚cash flows’) und Vermögenswerte (‚assets’) des erworbenen Unternehmens als „kollaterale” Sicherheit. Die Schulden, die für den Kauf des Unternehmens gemacht wurden, werden der gekauften Firma aufgebürdet und erscheinen in deren Bilanz als Passiva. Die Einnahmen des Unternehmens werden genutzt für die Bedienung der Schulden (Zinsen und Tilgung).
Bei typischen ‚leveraged buyouts’ ist das Verhältnis zwischen eingesetztem Eigenkapital und geliehenem Geld 1:4.
Wenn ein so erworbenes Unternehmen nicht in der Lage ist, den Schuldendienst zu leisten, kann es in den Bankrott getrieben werden[33], eine Gefahr, die dadurch verstärkt wird, dass der Schuldendienst es den Unternehmen oft nicht mehr erlaubt, in ausreichendem Maße für die Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu investieren.
Der billige und leicht erlangbare Kredit ist gleichsam der Lebenssaft der Private Equity Firmen. Die letzten Jahre vor der Finanzkrise (2003-Mitte 2007) waren geradezu ein Eldarado für ‚leveraged buyouts': der Zinssatz war sehr niedrig und alle möglichen Derivate, die auf der „securitisation” von irgendwelchen ‚assets’ beruhten (s.o.), wurden als „kollaterale” Sicherheit für Kredite akzeptiert. Private Equity Firms unterhielten ihre eigenen Hedge Fonds Abteilungen zur Geldbeschaffung.
Nun zielt natürlich normalerweise das ‚leveraged buyout’ nicht auf den Bankrott des erworbenen Unternehmens (dieser wird lediglich im Interesse der eigenen Geschäfte in Kauf genommen) und umgekehrt auch nicht auf die langfristige Inbesitznahme und eigene Betreibung des Unternehmens. Die Strategie zielt vielmehr auf einen möglichst raschen und gewinnbringenden Wiederverkauf. Der Zeithorizont ist typischerweise 3-5 Jahre. In und für diesen Zeitraum wird versucht, den Wert des Unternehmens zu erhöhen. Die Maßnahmen dazu sind vielfältig und zum Teil sehr komplex, sie umfassen konkrete Umstrukturierungsmaßnahmen des Unternehmens selbst ebenso wie Maßnahmen, die das Unternehmen gewissen Regulierungen des öffentlichen Börsenhandels entzieht oder zu Steuereinsparungen führt. Zu den Umstrukturierungsmaßnahmen gehören Austausch des Managements, Reduzierung der Belegschaft, Schließung von Fabriken, Verkauf von Nichtkernbereichen usw. Das Interesse der Private Equity Firma gilt vorrangig dem sichtbaren Erfolg des Unternehmens (gute aktuelle Gewinnsituation), nicht der langfristig tragfähigen Perspektive des Unternehmens.[34] „Buy it, strip it and flip it”, kennzeichnet ihre Philosophie[35].
Diese Philosophie ist nicht nur der persönlichen Motivation gieriger, kurzfristig denkender Fondsmanager geschuldet, sondern sie ist tiefer strukturell mit der Methodik der „organisierten Spekulation” verbunden, konkret: mit dem hohen Grad des Hebeleinsatzes, der Effektivität des Verfahrens auf der Basis einer hohen Verschuldung. Schon der Kredit auf der Basis des Zinses führt zu einer ökonomischen Abwertung der Zukunft[36], umso mehr der potenzierte Einsatz geliehenen Geldes. Er erzwingt förmlich eine möglichst kurzfristige Perspektive des Handelns und damit eine nicht nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Politik einer solchen – letztlich gegen die Interessen der Allgemeinheit gerichteten – Strategie solche Spielräume gelassen und sogar noch erweitert hat. [37] Hat sich in den Köpfen der Politiker die „unsichtbaren Hand” von Adam Smith, die angeblich das egoistische Handeln der Einzelnen zur allgemeinen Wohlfahrt zusammenführt, noch um eine neue wunderbare Komponente erweitert? Schafft sie es nun auch noch, aus der kurzfristigen Orientierung der Wirtschaftsakteure eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu zaubern?
Warnungen und warum sie nicht gehört wurden
Es gab früh warnende Stimmen, aber sie wurden im Überschwang der allgemeinen Finanzeuphorie, der auch viele Politiker erlagen, nicht ernstgenommen. Die große Woge des Erfolgs spülte die kleinlichen Bedenken einfach hinweg. Der Glaube, dass die Freiheit der Finanzmärkte (von zu viel staatlicher Regulierung und Kontrolle) der allgemeinen Wohlfahrt dient, war bis zur Krise sakrosankt. Die FED (die US-amerikanische Notenbank) war „überzeugt, dass die Finanzinnovationen das System in einer fundamental wohltätigen Weise verändert hatten”[38].
Angesichts der Spekulationsgeschäfte, die nicht von irgendwelchen zwielichtigen und selbsternannten Finanzgurus, sondern von offiziellen Finanzinstituten und traditionsreichen Bankhäusern getätigt wurden, steht man trotzdem immer wieder vor einem Rätsel: Wie haben intelligente Menschen, die auch noch was von Zahlen und Mathematik verstehen, denn überhaupt glauben können, dass das über längere Zeit gut gehen kann: Renditen von 10%, 15% und mehr – in einer Wirtschaft, die Wachstumsraten aufweist, die 10 mal geringer sind? (In mathematisch etwas weniger krassen, aber gleichwohl ebenso unerbittlich richtigen Weise steht die Frage beim Zins im Raum: Wie kann man glauben, dass eine Kapitalverzinsung von 5 oder 6 % bei einem Wirtschaftswachstum von 1 oder 2% auf die Dauer gut geht?)
Besonders irreal ist die „securitisation” der Hypotheken. Die CDOs brachten dem Käufer hohe Renditen ein, weil ihnen als „Einkommensstrom” nicht nur die Zins- sondern auch die Tilgungszahlungen aus dem zugrunde liegenden Kredit zuflossen. Jedermann weiß, dass damit die Rendite in nicht allzu ferner Zukunft abbricht. Bei Krediten ist diese Endlichkeit des Rückflusses gewollt und substantieller Teil des Verfahrens, aber bei einem „Wertpapier”? Doch das hat gar nicht interessiert, da man wohl in so langen Zeiträumen überhaupt nicht dachte. Und innerhalb des Zeithorizonts, in dem man dachte, vermutlich hoffte, die CDOs mit immer neuen Hypotheken unterfüttern zu können.
Der Mythos von der Berechenbarkeit
Das für den Betrachter von außen kaum nachvollziehbare Blindheit und Lernunfähigkeit der Finanzindustrie, die noch 2007 und Anfang 2008 angesichts einer offenkundig drohenden Instabilität des Gesamtsystems, ihre Aktivitäten vielfach wie gewohnt fortsetzte und sogar noch ausweitete, wird oft mit der Maßlosigkeit und Gier der Finanzmanager, also allein mit moralischen Kategorien, erklärt. Gier macht blind für Risiken, heißt es. Kritiker weisen auch auf die typisch männliche Rangordnungsmentalität hin, die offenkundig bei vielen Bankmanagern, Analysten, Brokern usw. besteht, die sie ständig Vergleiche mit anderen anstellen lässt und ihren Ehrgeiz antreibt, der Größte sein zu wollen, der das meiste Geld macht, das höchste Gehalt bezieht und die meisten Boni kassiert. Ein Krankheit, die besonders häufig junge Männer befällt, und unter den Bankleuten gab es ausgesprochen viele davon. Diese Orientierung wurde durch das System noch verstärkt, indem jeder, der seinen eigenen Ehrgeiz über alles stellte, genau die Erwartungen seiner Vorgesetzten erfüllte.
Moralische Defizite spielen sicher eine Rolle, aber sie reichen zur Erklärung hier nicht aus. Ausblendung von Wirklichkeit ist in erster Linie kein moralisches, sondern ein kognitives, erkenntnistheoretisches Problem. In den Köpfen der Akteure herrschte die Theorie der Berechenbarkeit (von Risiken), sie glaubten an ihre komplizierten Rechenmodelle, die vorgeben, die Entwicklungen auf dem Markt und die sich daraus ableitenden Risiken für ihre „Finanzprodukte” quantitativ richtig erfassen zu können. Ob diese Modelle auf der (alten) Effizienzmarkthypothese basieren, die behauptet, dass Märkte von sich aus immer zum Gleichgewicht tendieren, oder auf der (jüngeren) „Adaptive Markets Hypothesis”, die eine Art „Finanzdarwinismus” vertritt, in beiden dominiert der Glaube, dass man das Verhalten der Menschen (die auf den Finanzmärkten agieren) wie das Verhalten physikalischer oder biologischer Systeme berechnen könne. Die Überzeugung, über ein perfektes Instrument (das sich zudem in der eindrucksvollen Gestalt eines komplexen Computermodells präsentierte) zu verfügen und so „alles unter Kontrolle” zu haben, lässt die tatsächlichen Risiken in den Hintergrund treten (ein Phänomen, wie wir es auch aus anderen Bereichen kennen, z.B. beim Autofahren oder beim Kriegführen). Diese Überzeugung erwies sich als Illusion. Entscheidungen von Menschen im Allgemeinen und von Akteuren auf dem Finanzmarkt im Besonderen basieren eben nicht nur auf Sachverhalten, die man berechnen kann, sondern auch auf dem Bild, das man sich von den Sachverhalten macht. Das bedeutet: die Reflexionen, die die Menschen über die Wirklichkeit anstellen, bestimmen darüber mit, was in der Wirklichkeit passiert. Diese können mehr oder weniger falsch sein, sie können sich epidemisch ausbreiten und dadurch in den Köpfen durch Rückkopplung verstärken, sie können durch Gerüchte kippen usw. – auf jeden Fall sind sie unberechenbar. Der Mensch, auch als Akteur auf dem Finanzmarkt, besitzt die Freiheit zu allen denkbaren Fehleinschätzungen, irrationalen Handlungen, euphorischen oder panischen Überreaktionen usw. Interessanterweise ist es gerade ein großer Spekulant, George Soros, der den Gedanken der Unberechenbarkeit betont. Er stellt seine „Theorie der Reflexivität” kritisch den herrschenden Finanzmarkttheorien gegenüber. Diese hätten Erkenntnisse (aus der Physik oder der Evolutionsbiologie), die in vielen Bereichen unzweifelhaft nützlich sind, auf Bereiche übertragen, wo sie nicht anwendbar sind. An sich keine neue Weisheit, sondern eine vielfach ausgesprochene und berechtigte Kritik an den verbreiteten Tendenzen der Moderne, menschliches Handeln aus naturwissenschaftlichen, mathematisch formalisierbaren Erkenntnissen ableiten, erklären und vorhersagen zu wollen. Interessant jedoch, dass sie von George Soros gezielt gegen die herrschende Philosophie der Finanzindustrie erhoben wird. [39]
Das Ausblenden der Reflexivität des Menschen war die eine grundsätzliche Blickeinengung. Es gab noch eine zweite, sie entstand ebenfalls dadurch, dass man sich auf vermeintlich wissenschaftlich hieb- und stichfeste Methoden verlässt: die Fokussierung auf den isolierten Fall. Die Berechenbarkeit, wenn sie denn überhaupt gegeben ist, bezieht sich bestenfalls auf ein bestimmtes „Finanzprodukt”, nicht auf das ganze System mit seinen komplexen Zusammenhängen. So wurde schlicht übersehen, dass allein durch die Masse der „neuen Finanzprodukte” und die immer mehr ausufernde Kreditvergabe ein Risiko ganz neuer Qualität heranwuchs. Man war sich auch in diesem Punkt der begrenzen Aussagekraft der eingesetzten Modelle nicht bewusst.
Generalabsolution – Spekulation fördert die Markteffizienz[40]
Neben diesen Blickeinengungen hat eine weitere Idee vor allzu viel Skrupel und Selbstzweifel bewahrt, eine Idee, die den Spekulanten gewissermaßen pauschal zum Nützling des marktwirtschaftlichen Systems erklärt und konkrete Verantwortung gegenstandslos machte. Seine gesteigerte Sensibilität für die Chancen zum „Geldmachen” lasse ihn Lücken, Brüche, Disparitäten im System frühzeitig entdecken, und indem er sie nutzt, z.B. die unterschiedlichen Preise für die gleichen Produkte auf unterschiedlichen Märkten (‚Arbitrage’), trage er zu deren Überwindung und damit zur Erhöhung der Markteffizienz insgesamt bei. Wie die Realität zeigt, tritt dieser Effekt zumeist gar nicht ein, vermutlich weil die Interessen, die von den Unterschieden profitieren, eine Angleichung zu verhindern wissen.
Die These von der wohltätigen Funktion der Spekulation für den Markt erweist sich, was den Handel mit Derivaten angeht, schon deshalb als Mythos, weil die Preise für einen Großteil des Derivate gar nicht auf einem Markt gebildet wurden, ihre Bewertungen in den Bilanzen der Banken oder den Portfolios der Investoren erfolgten über komplexe mathematische Modelle, die nicht den aktuellen Markt widerspiegeln, sondern auf allgemeinen Theorien der Modellbauer basieren.[41]
Hinzu kommt, dass der Derivatenhandel oft, wie es heißt, ‚over the counter’ abgewickelt wird, d.h. gewissermaßen von Privat zu Privat erfolgt und nicht über eine öffentliche Börse. Die erreichten Preise bleiben oft geheim und liefern anderen Investoren nur wenige Informationen, die ihnen bei der Einschätzung der Risiken helfen könnten. So kommt es auch nicht zu dem wünschenswerten Phänomen, das die Befürworter des Systems gern zur Verteidigung anführen, dass die Risiken nur zu denen wandern, die (um es mit den Worten von Alan Greenspan, dem ehemaligen Chef der FED, zu sagen) „willens und wahrscheinlich fähig sind, es zu tragen”.
Die „organisierte Spekulation” kann so wenig für sich in Anspruch nehmen, einen Beitrag zur Verbesserung der Markteffizienz zu leisten, wie zur Erhöhung der allgemeinen Sicherheit auf dem Finanzmarkt.
Das hindert jedoch die geistigen Apologeten des Systems, z.B. Ökonomen an den führenden Business Schools, nicht daran, sogar den „Heuschrecken” eine „marktbereinigende” Wirkung zuzuschreiben. Wirklich „gut aufgestellten”[42] Firmen könnten sie nichts anhaben; Unternehmen jedoch, die irgendwelche Probleme haben, würden durch sie – besonders zu Krisenzeiten – schnell offenbar. Private Equity Firmen – so eine Art Raubtiere, die das Kranke in der Wirtschaft ausmerzen und zu ihrer Gesundung beitragen? Wirtschaftsdarwinismus in Reinkultur. Der Gedanke von Schumpeters „kreativer Zerstörung” steht Pate.
Auch die Krise insgesamt soll eine „marktbereinigende Wirkung” haben. Doch noch nie habe ich in diesem Zusammenhang auch nur ansatzweise gehört, dass es dabei darum ginge, die Marktmacht der Großen abzubauen und damit die Funktionsfähigkeit des Marktes und des Wettbewerbs zu erhöhen. Welche Vorteile bringt aber dann diese „Marktbereinigung”? Und für wen?
Das Spiel ist nicht aus
Mit dem 15.September 2008, dem Tag des Zusammenbruchs der viertgrößten US-Investmentbank, Lehman Brothers, nahm die weltweite Finanzkrise ihren vollen Lauf auf. Von diesem Zeitpunkt an, könnte man meinen, hätten die illusionären Träume ausgeträumt sein müssen. Eigentlich sollte man erwarten, dass nunmehr die Rückbesinnung auf die bewährten Grundsätze des Bankwesens einsetzt. Mitnichten, das Spiel der „organisierten Spekulation” ist keineswegs durch die Finanzkrise zum Erliegen gekommen. Die Versprechen – hohe Gewinne ohne Risiko – gehen weiter.
Einer der heiß empfohlenen Renner: die CDFs (‘Contracts For Difference’): „Egal ob Rallye oder Crash! Mit den neuen CDFs gewinnen Sie auch bei fallenden Börsen…”. „Mit viel Disziplin und Sachkönnen betrieben, sind solche Contracts For Difference eine perfekte Geldmaschine”. „Aber es kommt noch besser… Sie erhalten Zinsen auf Kapital, das Sie gar nicht besitzen!”, „Dank des 100-fachen-Hebels nach nur 4 Wochen ein Gewinn von 1031%” usw. [43]
Wir erinnern uns, welche Möglichkeiten es gibt, leistungslose Gewinne ohne Risiko einzufahren (s.o.), und fragen, um welche es sich hier handelt: Wird der Käufer über das Risiko getäuscht, oder soll er als Kumpan für die Täuschung anderer gewonnen werden?
Die Krise hat an der verbreiteten Mentalität des „Geldmachens” ohne eigene Leistung und Risiko nichts geändert. Gibt es eine moralische Erneuerung? Man hat eher den Eindruck, dass man nach der Krise, ja, sogar unter Nutzung der Krise, genau auf die gleiche Weise Geschäfte zu machen gedenkt. Ein Seniorbanker kommentiert: „First you make money by creating products no one understands, then you make money by cleaning the mess up”[44], erst macht man Geld durch Produkte, die niemand versteht, und beim Aufräumen des angerichteten Schlamassels geht es wiederum nur ums Geldmachen.[45] Da ist wohl kaum zu vermuten, dass die ernsthafte Absicht besteht, das Finanzsystem zu reformieren. Jedenfalls ist ein Jahr nach dem Ausbruch der Krise 2007 mehr Kapital in den Händen von Hedgefonds als je zuvor. Und die Superreichen der Welt haben in dieser Zeit ihren Reichtum um mehr als 9% auf 40.700 Mrd. $ gesteigert.[46]
Die cleversten (großen) Spekulanten bzw. Hedgefonds haben die Krise genutzt, indem sie durch rechtzeitige Wetten auf fallende Kurse von „Wertpapieren” Millionen und Milliarden „gemacht” haben. Der wohl spektakulärste Fall: Der US-Fondsmanager John Paulson hat als einer der ersten den Kurssturz der CDOs vorausgesehen und im großen Stil darauf gewettet, er konnte innerhalb eines Jahres das Vermögen seines Fonds von 6 auf 28 Mrd. $ steigern.
Geht nun alles wie gehabt weiter? Mit etwas anders verteilten Karten der Spieler? Diese Frage pauschal mit „ja” zu beantworten, hieße m.E., eine schwerwiegende Veränderung zu übersehen.
Ich denke, dass jene Teile der „organisierten Spekulation”, die aus Geschäften bestanden, bei denen die Banker der einen Bank cleverer sein wollten als die der anderen, nach der Krise tatsächlich mehr oder weniger ausgespielt haben. Hier ist vielleicht eine gewisse Ernüchterung eintreten, weil man entdeckt hat, dass, wenn jeder nur seinen Vorteil sucht, indem er sein Risiko minimiert, sich durch Tricks seiner Haftung entzieht, die Regeln, die ihm eine Reservehaltung vorschreiben, umgeht, am Ende alle ohne Sicherheit und Haftung anderer dastehen und vor allem ohne das Vertrauen, das man für alle Geschäfte zwischen ebenbürtigen Partnern braucht (für andere Geschäfte genügt die Macht der einen und die Abhängigkeit der anderen). Jedenfalls könnte man das zurzeit herrschende Misstrauen der Banken mit seinen schwer wiegenden negativen Folgen für die Wirtschaft zumindest in einem Punkt positiv deuten – als Zeichen einer Besinnung, aus der ein neuer Umgang mit dem anvertrauten Geld entstehen könnte.
Das andere große Feld der Finanzindustrie im Allgemeinen und der Spekulation im Besonderen bleibt jedoch und erfährt eher Auftrieb: die systematische Ausbeutung von Schwachen und Unerfahrenen und Abhängigen, die weder über politische, noch ökonomische, noch intellektuelle Mittel verfügen, sich angemessen zu wehren. So lobenswert es ist, wenn von einigen Banken jetzt zu hören ist, dass sie sich aus dem großen Investmentgeschäft zurückziehen möchten und sich stärker dem Geschäft mit den kleinen Privatkunden zuwenden wollen, so ist da doch Skepsis angebracht. Die Gefahr ist lange nicht gebannt, dass man mit undurchschaubaren Finanzprodukten die Kunden zu übertölpeln versucht, indem man mehr verspricht (bzw. zu versprechen den Eindruck erweckt), als man halten kann.
Neben dem „Angriff nach innen”: auf den „kleinen Mann” steht der „Angriff nach außen”: auf die Dritte Welt, die man heute positiv und zukunftsweisend ‚emerging market’ nennt. In dem Maße, wie die Chancen auf Spekulationsgewinne in den reichen Ländern gesunken sind (weil hier aufgrund der Krise und einer halbwegs offenen Berichterstattung in den Medien der zur Täuschung notwendige Schleier doch erhebliche Risse bekommen hat oder zunehmende Regulierungen den Spielraum der Spekulation einengen), drängt Kapital nach Asien und andere ‚emerging markets’. Allein in der ersten Hälfte des Krisenjahres 2008 sind über 100 neue Private Equity Fonds mit Blickrichtung auf diese Märkte aus der Taufe gehoben worden[47].
Der Ölmarkt, überhaupt das Geschäft mit den Rohstoffen, der sich zuspitzende Wassermangel, der Bau von Stauseen und Infrastrukturinvestitionen allgemein sowie vor allem der Nahrungsmittelmarkt (s.u.) bieten sich an für spekulierendes Geld und versprechen einen schnellen und sicheren Gewinn. Hier werden Spekulationsgelder, nachdem sich die Möglichkeiten der „organisierten Spekulation”, die auf der Täuschung halbwegs ebenbürtiger Gegner beruhen, doch als begrenzt erwiesen haben, verstärkt die Hebel ansetzen, zumal wenn ein Land aufgrund seiner politischen Schwäche die notwendigen Regulierungen nicht durchzusetzen vermag. Geld genug für dieses „Engagement” in solchen Ländern ist auch nach der Krise vorhanden, und es befindet sich konzentrierter denn je in den Händen der Sieger, und gerade die haben wenig Grund, an ihrer Mentalität und ihren Strategien zu zweifeln. Wenn man zur Kenntnis nimmt, mit welchen Methoden auf dem ‚emerging markets’ „Geld gemacht” wird, fällt es schwer, eine saubere Grenze zwischen der organisierten Spekulation und organisierter Kriminalität zu ziehen. [48]
Es ist kein Zufall, dass sich hier die Versprechen hoher Renditen keineswegs als Irreführung erweisen. Der sogenannte Millennium Fonds z.B., der an lukrativen Infrastrukturprojekten beteiligt war und von der Private Equity Firma KKR gemanagt wurde, hat seit seinem Gründungsjahr 2000 jährliche Returns von 55% erzielt[49].
Indien zählt zu den ganz Großen der ‚emerging markets’.[50] In den letzten Jahren haben Privat Equity Firmen in Indien viel höhere Returns erzielt als in den USA und Europa. Die Aktivitäten liegen noch auf einem niedrigen Niveau, aber die Steigerung ist enorm (2004: 1,1 Mrd. $, 2005: 2,2 Mrd. $, 2006: 7,4 Mrd. $, 2007: 17 Mrd. $). Unzweifelhaft tragen diese Aktivitäten zur Entwicklung Indiens bei. Wie es aussieht, ist es aber eine Entwicklung, die die Kluft zwischen Arm und Reich wachsen lässt. In Indien wächst die Zahl der Millionäre schneller als in jedem anderen Land der Welt. Laut Wirtschaftsmagazin Forbes sind 4 der 10 reichsten Männer der Welt indische Industrielle.
Die Aktivitäten in diese Richtung treten teilweise im Gewand beschwörender politischer Warnung, wissenschaftlicher Aufklärung, Ethik und Moral auf. Dazu nur zwei Beispiele.
Das erste betrifft den Hunger in der Welt und die drohende Verschärfung der Welternährungssituation.[51] Eine Situation, in der die Cleversten der Finanzindustrie den Weizen zum „neuen Gold” erklären und den Agrarsektor zum Feld, in dem in Zukunft die besten (sprich: sichersten) Wetten abzuschließen sind, da Nahrungsmittel nicht ersetzt werden können (wie Erdöl z.B. durch regenerative Energie, wodurch eine gewisse Unsicherheit ins Spiel kommt). Da wirbt z.B. die englische Investmentbank Schroders im Zusammenhang der weltweiten Nahrungsmittelverteuerung 2008 bei reichen Investoren Geld ein für ihren 2006 aufgelegten neuen Fonds (‚Schroders Alternative Solutions Agriculture’). Die Argumente, die Schroders und andere Fonds, die ebenfalls den Agrarsektor entdeckt haben, für die Werbung benutzen, sind ernst und zutreffend: der Bedarf an Nahrung steigt, während das Angebot gebremst wird, die Reserven haben ein 40-Jahres-Tief erreicht, die Verfügbarkeit von Ackerland schrumpft, die Steigerung der Hektarerträge flacht ab, die Wasserverfügbarkeit sinkt, die Biotreibstoffgewinnung konkurriert mit der Nahrungserzeugung um Flächen, die globale Klimaverschiebung betrifft die Landwirtschaft fundamental, Ackerland wird durch Urbanisierung und den Zugriff der Bodenspekulation weiter eingeschränkt, auf der anderen Seite wird durch die „Fortschritte” bei der Entwicklung der Bedarf an tierischem Eiweiß steigen[52]. Aber obwohl diese Fonds keines dieser Probleme, die sie klar aus Werbegründen ansprechen, zu lösen beanspruchen (können), versprechen sie dem Investor hohe Renditen für sein eingesetztes Kapital! Schroders neuer Fonds hat in den 18 Monaten seit seiner Gründung dieses Versprechen in höchstem Maße eingelöst und insgesamt Returns von fast 50% gebracht.
Doch auch diese Gewinne werden nicht durch Spekulation aus dem Nichts gezaubert, sondern auch hier existiert das Pendant: diejenigen, die diese Gewinne bezahlen. Die Fondspropagandisten bemühen sich natürlich, die Gewinne als Folge ihre überlegenen Instrumente, ihrer „genialen” Kombinationen aus ‚futures’, ‚options’ und ‚swaps’ erscheinen zu lassen. Da gibt es Instrumente, die nur auf Anstieg der Preise setzen, andere verbinden zwei Strategien: die eine setzt auf Anstieg, die andere auf Sinken des Preises, wodurch angeblich die eine Wette durch die andere „geschützt” wird. Wenn auf die Dauer durch Spekulation in diesem Bereich „Geld gemacht” wird, d.h. alle Spekulanten gegen die Mathematik Renditen einfahren, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Menschen, die die Nahrung erzeugen, zu wenig für ihre Produkte bekommen, oder die, die sie essen, zu viel dafür bezahlen müssen, oder dass beides der Fall ist.
Das andere Beispiel: ein Prospekt, der mir mit der Post ins Haus flatterte und der sich als WARN-Report zur Immobilienkrise, die sich zu diesem Zeitpunkt abzuzeichnen begann, überschrieb. Auffällig zunächst der beschwörende ernste Ton, mit der eine ganze Reihe bedrohlicher Tatsachen, die (soweit ich das nachprüfen konnte) zutreffend sind, und zusammen mit einer politisch durchaus berechtigten Kritik an der US-amerikanischen Währungspolitik und der Wall Street aufgelistet werden. Zu den angesprochenen Sachverhalte gehören die Immobilienkrise und ihre Hintergründe, die Mechanismen ihrer Ausweitung zur Bankenkrise, die verantwortungslose Umgehung von Regulierungen, die Bilanzierungsskandale von ENRON und WorldComp in den USA, die wachsende Verschuldung der Staatshaushalte usw. Da werden die weltweit ins Gigantische angestiegenen Derivate (derzeit existierten 410.000 Mrd. $ in Form von Derivaten!) als ein „Fluch” und als „Massenvernichtungs-Waffen der Finanzmärkte” bezeichnet. Es finden sich aufschlussreiche Einzelheiten[53] zu den „neuen Finanzprodukten” und Akteuren, bisweilen scharf gemacht mit der Würze des Populismus (wenn es z.B. heißt: „Aus der Sicht einiger Hedge-Fonds-Manager an der Wallstreet ist Deutschland nur ein Häufchen Fliegendreck!”). Doch was auf den ersten Blick wie ein Weckruf an den politischen Bürger aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als eine Werbebroschüre von „Weiss’ Ratings, Dr. Martin Weiss’ Analyse-Firma” für den Geldanleger. Eigentlich nicht zu glauben: da steht der Zusammenbruch des Finanzsystems und der Weltwirtschaft vor der Tür, da heißt es wörtlich: „Machen Sie sich auf ein Inferno gefasst!” und … folgen Sie unseren bewährten Ratschlägen und versäumen Sie nicht, „Gewinne von 237%[54] und mehr in der kommenden Krise zu realisieren”.
Doch es geht auch etwas seriöser und moderater. BlickpunktFonds, die Zeitung von Union Investment, erwähnt in einer Serie über die „Märkte der Zukunft” durchaus Kritisches („die Zeche zahlten vor allem chinesische Bürger”), appelliert auch nicht offen oder versteckt an die Gier potentieller Anleger, sondern präsentiert das wachsende Interesse an den neuen, aufsteigenden Märkten als berechtigtes Sicherheitsinteresse: „Anleger wissen: Ein breit gestreutes, gut aufgestelltes Depot minimiert Risiken. Vor diesem Hintergrund gewinnen Werte der Schwellenländer, der sogenannten Emerging Markets … zunehmend an Attraktivität”[55]. In der gleichen Zeitung wird dann unter dem Stichwort „der Weg aus der Krise” auf die sinkenden Rohstoffpreise hinwiesen und dies als „das mit Abstand wirkungsvollste ‚Konjunkturpaket'” hingestellt: „Der positive Effekt auf die Kaufkraft wird weltweit auf 1,3 Billionen Euro taxiert”. Dieser so scheinbar neutrale Satz offenbart die zweigeteilte Weltsicht: Es gibt Menschen, deren gestiegene Kaufkraft zählt, und es gibt Menschen (in den Rohstoffländern), deren gesunkene Kaufkraft nicht zählt!
Änderung nicht in Sicht
Das „Absaugen” bei den Schwächeren („kleine Leute”, gestresste Unternehmen, machtlose, abhängige Länder) wird nach der Krise nicht aufhören. Es besteht vielmehr begründeter Verdacht, dass dieser Teil der „organisierten Spekulation” Auftrieb bekommt, denn die Motivation und das finanzielle Potential dazu in den Händen derer, die von dieser Motivation geleitet werden, sind gestiegen. Die Finanzkrise allein wird nicht zur notwendigen Reform des Geld- und Finanzsystems führen. Dass diese Krise zu einem wirklichen Niedergang des „neoliberalen Paradigmas” führt, ist alles andere als ausgemacht. Zwar ist der Glaube an die „Effizienz der Märkte” und die Rationalität der Marktakteure angeschlagen, aber keineswegs gebrochen, weder bei den Experten noch bei den Politikern. So sehr sich die Politiker jetzt gezwungen sehen, angesichts des offenkundigen Versagens „der Märkte” mit staatlichen Rettungsaktionen einzuspringen, so sehr beeilen sie sich hinzufügen, dass diese Aktivitäten nur vorübergehender Natur sind und das Ziel haben, die Funktionsfähigkeit des „freien Marktes” wieder herzustellen. Sie vermeiden sorgfältig, einen tiefer greifenden strukturellen Wandel am Geld- und Finanzsystem zu organisieren, ja, sie vermeiden ängstlich alles, was auch nur den Eindruck erwecken könnte, sie würden an diesem System irgendetwas anderes kritisieren als seine schlimmsten Auswüchse. Alle empören sich über verzockte Milliarden von Banken, aber niemand fragt, wozu und zu wessen Nutzen Banken eigentlich spekulieren müssen. Es gerät wohl die (maßlose) Gier des einzelnen ins Visier der Moralisten, aber dass die Spekulation als solche strukturelle Amoralität und Asozialität im großen Stil bedeutet, bleibt weiterhin im Dunkeln. Auf dem Weg zu einer wirklichen Reform des Geld- und Finanzwesens werden noch langwierige gesellschaftlicher Lernprozesse und politische Auseinandersetzungen erforderlich sein. Die Finanzkrise hat bewirkt, dass bei einer Zahl von Menschen die Bereitschaft zunimmt, sich darauf einzulassen, mehr noch nicht.
Noch einmal Einkommen, Leistung und Risiko – ein notwendiger Nachtrag zur Abrundung
Es gibt noch andere Formen leistungs- und risikoloser Einkommen. Als erstes ist hier die Rente zu nennen. Im Unterschied zum „Einkommen auf Vermögen” handelt es sich in der Regel um ein moderates Einkommen, das kaum mehr als die physischen und soziokulturellen Grundbedürfnisse deckt. Die „Leistungslosigkeit” dieses Einkommens ist zudem eine ganz andere als beim „Einkommen auf Vermögen” und der „organisierten Spekulation”. Die Rente setzt entweder die eigene (frühere) Leistung voraus (Altersrente), oder eine nachweisbare Unfähigkeit zur Leistungserbringung (Unfall- oder Behindertenrente). Für beides existieren klare Kriterien. Das „Einkommen auf Vermögen” wird völlig losgelöst von der Frage nach der Fähigkeit zur Leistungserbringung gezahlt. Die Bezugsberechtigung zur Rente aufgrund früher erbrachter Leistungen erlischt bei der Rente mit dem Tod, während das „Einkommen auf Vermögen” nach Vermögensvererbung auch von Kindern und Kindeskindern weiter bezogen wird. Und schließlich bedeutet dieses leistungslose Einkommen keine zwangsläufige Verschiebung des Geldes hin zu den Rentnern und keine innewohnende de facto automatische exponentielle Selbstvermehrung.
Schließlich gibt es verschiedene Formen der Unterstützung, von der Sozialhilfe bis hin zu persönlichen Schenkungen. Auch diese sind ein Einkommen ohne Leistung und Risiko. Schenkungen z.B. sind von sehr unterschiedlichen, emotionalen, manchmal irrationalen Motiven bestimmt, sie sind im gesellschaftlichen Kontext weniger interessant. Bei der Sozialhilfe gibt es einen Bezug zur Leistung insofern, als letztlich der „Leistungsempfänger” (sinnverdrehendes Beamtendeutsch!) den Nachweis erbringen muss, dass er zwar Leistung erbringen, d.h. arbeiten möchte, aber aufgrund von Umständen, die er nicht zu verantworten hat, keine Arbeit findet. Wenn er dann auch keine weiteren eigenen Einkommensmöglichkeiten besitzt, ist seine „Bedürftigkeit” bewiesen, die zum Einkommen aus Unterstützung berechtigt. Im Unterschied dazu muss der Bezieher eines „Einkommens aus Vermögen” nichts dergleichen nachweisen, im Gegenteil: diese Form der Sozialhilfe (nichts anderes ist das „Einkommen auf Vermögen”, denn es wird aus dem Sozialprodukt bezahlt, das die Gemeinschaft erwirtschaftet) fällt automatisch umso reichlicher aus, je geringer die Bedürftigkeit seines Beziehers ist.
„Einkommen auf Vermögen” und „Sozialhilfe” sind zwar beide leistungslose Einkommen, aber gänzlich unterschiedlicher Natur. Das sollte man auch bei der Diskussion um ein „bedingungsloses Grundeinkommen” nicht aus den Augen verlieren. Was Letzteres angeht, so bleibt es eine Utopie, solange die Gesellschaft nicht einen Weg gefunden hat, das „Einkommen auf Vermögen” und die „organisierte Spekulation” zu überwinden, ja, die übergroße Mehrheit noch nicht einmal – trotz Krise – begriffen hat, welche Beeinträchtigungen sie hierdurch heute erleidet und welche Gefahren für die Zukunft daraus erwachsen.
[1] Das heißt nicht, dass der „Arbeitnehmer” keine Risiken trägt, er trägt sie heute sogar in zunehmendem Maße, indem er ständig vom Verlust seines Arbeitsplatzes bedroht ist. Es heißt nur, das die Höhe des Einkommens hier normalerweise nicht von der Bereitschaft, finanzielle Risiken zu übernehmen, abhängt (von der Bereitschaft, z.B. gesundheitliche Risiken am Arbeitsplatz, durchaus).
[2] Es gehört zu den Mythen des Mainstreams, dass Dynamik, Veränderung, Verbesserung, Fortschritt usw. nur bei Wachstum möglich ist. Und dass Unternehmer aufhören würden zu investieren, wenn es kein wirtschaftliches Wachstum gibt. Die vielfältigen inneren Verschiebungen, Entwicklungschancen, Effizienzverbesserungen im Gesamtsystem werden übersehen.
[3] Wie die Spekulation des Thales von Milet vor 2600 Jahren, der sich einmal vor einer Olivenernte die Verfügung über die Ölpressen durch die Zahlung einer gewissen Summe vertraglich sicherte, wodurch er durch die Vermietung der Pressen bei einer überdurchschnittlichen Ernte ein gutes, bei einer unterdurchschnittlichen Ernte ein schlechtes Geschäft machen würde. Dieser historische Beleg für das erste Derivatgeschäft der Geschichte wird von den Apologeten der „neuen Finanzprodukte” gern angeführt, um die (Alt)Ehrwürdigkeit ihrer Instrumente zu beweisen. Vgl. Nicolas Hildyard: A (Crumbling) Wall of Money, Financial Bricolage, Derivatives and Pover, The Corner House, UK, www.thecornerhouse.org.uk (8.10.2008 Work in Progress) S.15f.
[4] Spekulation vernichtet jedoch direkt kein Geld, sondern verschiebt es nur von einer Hand in die andere. Dadurch ist es für die Zeit, wo es sich von einer Spekulantenhand in die andere bewegt, d.h. auf dem „Spekulationsmarkt” kreist, der realen Wirtschaft entzogen. Diesen Sachverhalt nenne ich „temporäre Kapitalvernichtung”. Mit dem Wort „Kapitalvernichtung” wird von den Kommentatoren des Börsengeschehens viel Schindluder getrieben. Völlig unsinnig ist es, von „Kapitalvernichtung” zu sprechen, wenn die Kurswerte der Aktien einbrechen (Originalton: „da wurde viel Geld verbrannt”). Kapitalvernichtung kann jedoch die indirekte Folge von Spekulation sein, nämlich, wenn im Zuge von Fehlspekulationen, besonders mit geliehenem Geld, Haushalte und Unternehmen Bankrott anmelden müssen. Und dann Sachkapital zeitweise brachliegt oder gar verrottet. Wenn jetzt als Folge der Finanzkrise Banken ihrer eigentliche Aufgabe, der Kreditvergabe an die Wirtschaft nicht mehr hinreichend nachkommen (vor allem, weil der „geistige Stoff” für Kredite, das Vertrauen, vernichtet wurde), droht die Wirtschaftskrise, und diese ist dann „temporäre Kapitalvernichtung” im großen Stil (und wenn Fabrikanlagen vorzeitig unbrauchbar werden, auch dauerhafte Kapitalvernichtung) und zudem „temporäre Arbeitskraftvernichtung” (und nicht selten, wenn Menschen an zu langer Arbeitslosigkeit zerbrechen oder verkommen, auch dauerhafte „Arbeitskraftvernichtung”).
[5] Interessant, dass im Zusammenhang von Finanzen kaum von Klugheit, Intelligenz oder gar Weisheit die Rede ist. Die zum „Geldmachen” passende „Tugend” heißt Cleverness.
[6] Engl. ‚acronyms’. Solche acronyms sind inzwischen Legion. Besonders schön ist der Name FELINES PRIDES (‘Preferred Redeemable Increased Dividend Equity Securities’) – wobei das Adjektiv ‘feline’ (katzenhaft/verschlagen) wohl die klarste Aussage über dieses „Finanzprodukt” macht. Eine seiner schönen Eigenschaften besteht darin, dass es einem Unternehmen erlaubt, Geld aufzunehmen, ohne dass das irgendwie in der Bilanz des Unternehmens auf der Sollseite auftauchen muss. Das dadurch entstehende geschönte Bild über die finanzielle Lage des Unternehmens ist seinerseits „goldwert”. Im bis dahin spektakulärsten Bankrott in der amerikanischen Geschichte, dem Bankrott des Energiegiganten und Derivatengrosshändlers ENRON 2001 haben FELINES PRIDES eine milliardenschwere unrühmliche Rolle gespielt. Vgl. Nicolas Hildyard: A (Crumbling) Wall of Money, Financial Bricolage, Derivatives and Pover, The Corner House, UK, www.thecornerhouse.org.uk (8.10.2008 Work in Progress), S.31.
[7] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.2f und S.12
[8] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.18
[9] Vgl Hildyard, a.a.O., S.15
[10] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.19
[11] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.5
[12] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.20
[13] Vgl. dazu Hildyard, a.a.O., S.10
[14] Vgl. Hildyard, a.a.O., S. 10
[15] Diese Schichten wurden in einer seltsam anmutenden Verharmlosung „subprimes” – untererstklassige Kunden – genannt und die US-amerikanische Hypothekenkrise wird als ‚Subprime Crisis’ in die Geschichte eingehen.
[16] Angesichts der Komplexität des ganzen System kommt einem die Frage in den Sinn, ob es da nicht sogar “rekursive Derivatbildungen” gegeben haben könnte, dass also ein Derivat, das über mehrere Stufen von einem anderen Derivat abgeleitet wurde, seinerseits für die Unterfütterung des Ausgangsderivats herhalten musste. Ein Geldfluss im Kreis über mehrere Stationen, wobei an jeder Station Gebühren kassiert wurden und bei dem alle bereitwillig mitspielten, solange der Wert der Derivate am Markt stieg? Absurd, auch nur zu denken, dass es so etwas geben könnte?
[17] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.5
[18] Vgl. dazu Hildyard, a.a.O., S.28
[19] Es waren vor allem „strukturierte Produkte”, die z.B. der Schweizer Großbank UBS 2008 den spektakulären Verlust von 20 Mrd. Schweizer Franken (13 Mrd. €) bescherten und viele UBS-Kunden um Teile ihres Vermögens brachten.
[20] Vgl. zu den Hedgefonds Hildyard, a.a.O., S.35ff. und S.18
[21] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.36
[22] Vgl. Franz Groll: Wie das Kapital die Wirtschaft ruiniert, Riemann, München, 2004, S.128ff.
[23] Franz Groll, a.a.O., S.130
[24] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.8
[25] Nach Informationen der Financial Times, vgl. Hildyard Fußnote 318
[26] Vgl. zum Folgenden Kavaljit Singh: Taking it Private. Consequences of the Global Growth of Private Equity, Public Interest Research Centre, Delhi, India, 17 September 2008 (Work In Progess), besonders S.14-18
[27] Franz Müntefering hatte 2005 Private Equity Firmen als “Heuschrecken” (engl. „locusts”) bezeichnet, was sogar in Indien Beachtung gefunden hat; vgl. Kalvaljit Singh, a.a.O., S.2
[28] Vgl. Kavaljit Singh, a.a.O., S. 13
[29] Vgl. Kavaljit Singh, a.a.O., S.3f.
[30] Man kann hierin eine Maßnahme zum Schutz „kleiner Leute” sehen. Der Verdacht ist jedoch nicht abwegig, dass man dieses Instrument zur Reichtumsvermehrung den Reichen vorbehalten will. Ginge es nur um Schutz, könnte man allen eine Beteiligung, aber nur bis zu einem bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens bzw. Vermögens erlauben. Das bei einer Vielzahl kleiner Anleger überprüfen zu müssen, wäre viel zu aufwändig und würde zusätzliche Kosten verursachen, die die Gewinne schmälern.
[31] Die weltweit größten Private Equity Firmen (Stand vom April 2007): The Blackstone Group. The Carlyle Group, Bain Capital, Texas Pacific Group (TPC), Kohlberg Kravis Roberts (KKR), Cerberus …, vgl. Kavaljit Singh, a.a.O., S.5.
[32] Auch z.B. die Deutsche Bank beteiligt sich an dem Spiel. Ihr Chef, Ackermann, teilte im Zusammenhang der Verlustmitteilung für das Jahr 2008 von 3,9 Mrd. € so nebenbei – als Zeichen für Lehren, die man gezogen habe – der Öffentlichkeit mit, dass man 2008 35 Mrd. € für kreditfinanzierte Unternehmensübernahmen bereitgestellt habe, und dass es im laufenden Geschäftsjahr nur eine Milliarde sein würden.
[33] Man erfährt gerade (Februar 2009), dass das Traditionsunternehmen Märklin, das 2006 von einer „Heuschrecke” aufgekauft und von ihr eine neue Unternehmensstrategie angeraten oder aufgezwungen bekam, Insolvenz anmelden muss (www.blogspan.net/presse/tag/kingsbridge-capital/) Für jemand, zu dessen wenigen Spielzeugen ein alter Märklinbaukasten aus der Vorkriegszeit gehörte, muss diese Nachricht eine besondere Art von Zorn auslösen.
[34] Der Fall der Firma Märklin, die auf eine 150jährige Tradition zurückblickt und die jetzt (Februar 2009) vor dem Aus steht, nachdem sie vom englischen Finanzinvestor Kingsbrigde Capital aufgekauft wurde, ist geradezu ein „Lehrstück” für die ebenso rücksichtlose wie bornierte Vorgehensweise von „Heuschrecken” (Monitor, ARD, 19.2.2009). 30 Mio. € wurden für Berater ausgegeben, die die üblichen eindimensionalen Rezepte (Kostensenkung, z.B. durch Auslagerung von Teileproduktion in Billiglohnländer, Steigerung des Umsatzes durch neue Produktangebote in rascher Folge) zur Anwendung brachten, um die aktuelle Gewinnsituation zu verbessern, ohne zur Kenntnis zu nehmen, worauf der langfristige Erfolg des Unternehmens beruhte: Gediegenheit, Liebe zum Detail, Einstellung auf den Typ des Sammler- und Liebhaberkunden. In der Presseinformation von Märklin vom 24.5.2006 zum Besitzerwechsel hieß es vollmundig: „Wir werden jetzt unser Kostenstraffungsprogramm zügig fortsetzen und wettbewerbsfähiger neue Wachstumschancen ergreifen”.
[35] Vgl. Kalvaljit Singh, a.a.O., S.17
[36] Liegen sie weit in der Zukunft, sind Gewinne nicht des Interesses wert, Verluste und Schäden nicht der Beachtung.
[37] Wie sehr der Wahn in der Politik Verbreitung fand, dass größtmöglicher Freiheit für jedwede Geschäftstätigkeit zum Wohle der Allgemeinheit wäre, zeigt sich besonders eindrücklich daran, dass eine rot-grüne Regierung die Veräußerungsgewinne aus dem Verkauf von Unternehmensanteilen von der Steuer freigestellt hat – eine ernorme Begünstigung der Aktivitäten von Private Equity Firmen!
[38] Zit. nach Hildyard, a.a.O., S.13
[39] Vgl. George Soros: Ineffiziente Mythen, HandelszeitungOnline, www.handelszeitung.ch/artikel/Unternehmen-George-Soros-Ineffiziente-Mythen_485123.html (12.02.2009)
[40] Vgl. Zum folgenden Abschnitt Hildyard, a.a.O., S.26
[41] Vgl. Hildyard a.a.O., S.18
[42] Was besagt eigentlich diese heute so beliebte Formulierung inhaltlich? Allenfalls vermittelt sie uns, dass man sich Märkte als eine Art Schlachtfeld vorstellen muss.
[43] Wer sich dafür interessiert, findet dazu noch viele andere wunderbare Versprechungen unter www.cfd-brief.de
[44] Zit. nach Hildyard, a.a.O., S.14
[45] Die Phantasie eines Normalbürger reicht nicht aus, um sich vorzustellen, was in diesem komplizierten Finanzsystem taktiert und strategiert wird, um den „Schlamassel aufzuräumen”. Da leiht z.B. eine Bank einer Private Equity Firma Millionen, damit diese ihr (der Bank) „faule Kredite” abkauft (vgl. Kavaljit Singh, a.a.O., S.24). Da muss man schon eine Menge über die Marktlage, die unterschiedlichen Zinsen, über die verschiedenen Grade der Regulierungen für Banken und Fonds, über das Bonussystem und die Besteuerung von Boni, über die rechtlichen Bedingungen von Zwangsversteigerungen, Zwangsvollstreckungen usw. wissen, um einen Vorteil für beide Beteiligten an diesem Deal konstruieren zu können. Womit sich aber sofort die Frage stellt: Auf wessen Kosten gewinnen beide? Auf Kosten der verschuldeten Hausbesitzer, auf Kosten des Steuerzahlers?
[46] Hildyard, a.a.O., S.14
[47] Vgl. Hildyard, a.a.O., S.13
[48] Auch der Subprime Markt war ja ein „Ausbeutungsmarkt”: man pumpte Kapital – die Aussicht auf Spekulationsgewinn wirkte als Verstärker zur Anlockung des erforderlichen Kapitals -, erzeugte dort einen „Druck”, dem dieser Bereich gar nicht gewachsen ist, das Geld strömte zurück bzw. wurde brutal zurückgepumpt (mittels Zwangsversteigerungen und Zwangsvollstreckungen) und riss eine Menge von dem, was diesen Menschen aufgrund ihrer Leistungen gehörte, mit sich fort. Sie glaubten, durch den unverhofften Geldsegen durch die Kredite Gewinner zu sein, waren am Ende aber die Verlierer.
[49] Vgl. Kavaljit Singh, a.a.O. , S.31
[50] Vgl. zum Folgenden Kavaljit Singh, a.a.O. , S.25-37
[51] Vgl. dazu Hildyard, a.a.O., S.45f.
[52] Für jede Einheit tierischen Eiweißes muss ein Mehrfaches an pflanzlichem Eiweiß eingesetzt und damit an Ackerland in Anspruch genommen werden.
[53] Warren Edward Buffet, „der reichste Investor der Welt” (geschätztes Privatvermögen 62,4 Mrd. $), habe sich nach dem Kauf des Rückversicherers General Re genauer mit der Konstruktion von Derivaten beschäftigt und daraufhin den Derivaten-Handel bei General Re einstellen lassen.
[54] Ein kleiner Nebenaspekt: Fast komisch mutet die Genauigkeit dieser Zahl an, sie soll Wissenschaftlichkeit vortäuschen.
[55] BlickpunktFonds. Die Zeitung von Union Investment, 1/2009, S.6
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